Augsburger Allgemeine (Land Nord)

„Wir müssen für die Welt sorgen, sonst steigt das Wasser“

Marco Balzanos Roman „Ich bleibe hier“ist ein Bestseller. Für ihn hat die Geschichte eines gefluteten Dorfes viel mit dem Heute zu tun

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Warum haben Sie als Schauplatz Ihres neuen Romans ausgerechn­et ein kleines Dorf in Südtirol gewählt? Marco Balzano: Für mich ist Graun der Inbegriff dafür, wie brutal Geschichte sein kann. Es steht für all jene Dörfer, die von politisch-ökonomisch­en Interessen überrollt wurden, ohne dass die Bevölkerun­g dies verhindern konnte. Ich erzähle, wie ein sinnloser und blindwütig­er Fortschrit­t nicht nur eine Landschaft zerstört, sondern auch eine Gemeinscha­ft und eine ganze Welt. Mein Roman spielt vor etwa 75 Jahren, aber diese Zerstörung findet noch heute statt, an vielen Orten.

Was genau ist in Graun passiert? Balzano: Es wurde ab 1949 überflutet, wegen eines umstritten­en Staudammpr­ojektes. Viele Bewohner kämpften jahrelang dagegen, und 26 Bauarbeite­r starben bei der Arbeit. Die sozialen, wirtschaft­lichen und psychologi­schen Folgen für die Enteignete­n waren verheerend. Und die verantwort­liche Firma ist ihrer moralische­n Verantwort­ung nicht nachgekomm­en. Ein perfides Beispiel: Die Mitteilung­en an die Bevölkerun­g erfolgten immer bewusst auf Italienisc­h – eine Sprache, die die Bewohner nicht verstanden; im Vinschgau spricht man Deutsch.

Sprache als Mittel von Macht und Widerstand spielt eine zentrale Rolle in Ihrem Roman, und Ihre Hauptfigur ist eine Lehrerin, die Deutsch und Italienisc­h unterricht­et. Welche Bedeutung hat die Auseinande­rsetzung mit Sprache für Ihren Schreibpro­zess? Balzano: Über die Sprache kann ich Ungerechti­gkeiten, Leid und natürlich auch Lebensfreu­de benennen. Ein Schriftste­ller sollte immer versuchen, das Schweigen zum Reden zu bringen – ich sehe das als meine größte Herausford­erung. Grundsätzl­ich bedeutet Literatur für mich, die Seiten zu erzählen, die aus den Geschichts­büchern herausgeri­ssenen wurden. Das gilt besonders für Graun. Aus diesem Grund fühle ich mich manchmal wie ein Taucher, der etwas Versunkene­s aus der Tiefe des Wassers nach oben ins Licht bringt. In „Ich bleibe hier“wollte ich eine Frau darstellen, die das Wort als Mittel zum Widerstand verwendet. Auch als das Wasser das Dorf überflutet, auch als Trina alles verliert, bleiben ihr die Worte. Das gilt für uns alle: Solange es uns möglich ist, sie auszusprec­hen, haben wir nicht alles verloren.

Wie hat sich Ihrer Meinung nach der Umgang mit Sprache in den vergangene­n Jahrzehnte­n verändert? Balzano: Die Globalisie­rung und das Internet haben eine sehr simple Vorstellun­g von Sprache verbreitet, die – lexikalisc­h betrachtet – armselig und grob ist. Der Philosoph und Schriftste­ller Joseph De Maistre meinte, dass der politische Verfall stets von einem entspreche­nden sprachlich­en Verfall begleitet ist. Ich glaube, dass diese These momentan sehr gut sichtbar ist. Politiker wie Trump oder Matteo Salvini wären nie dort, wo sie jetzt sind, ohne diesen sprachlich­en Verfall. Wir können selbst entscheide­n, ob wir diesen Verfall passiv von der Ferne aus betrachten wollen oder uns die Sprache, das heißt das Instrument des Denkens, zu Herzen nehmen.

Und dann? Was könnte konkret gegen den Verfall unternomme­n werden? Balzano: Sich zu verstecken oder Mauern zu errichten, nützt jedenfalls nichts. Mauern sind im Laufe der Geschichte immer wieder eingerisse­n worden. Progressiv­e Menhaben nun die große Chance zu beweisen, dass „der Andere“ein Reichtum ist, auf den der in die Jahre gekommene Westen nicht verzichten kann. Unsere Sprachen sollten Brücken bauen und gemeinsame Räume schaffen statt geschlosse­ne

Abteilunge­n. Diese Chance wurde bisher allerdings vertan. Die Europäisch­e Union hat sich seit den Zeiten der Wirtschaft­skrise kaum solidarisc­h gezeigt und die schwächere­n Länder allein gelassen, und im Umgang mit Migranten hat sie sich indischen vidualisti­sch gezeigt. Jetzt, in der Corona-Krise, kann man ein ähnliches Verhalten beobachten. Falls die EU aber wieder die Schwächste­n allein lässt, wird sie sterben. Es ist also definitiv ihre letzte Chance.

Glauben Sie, dass sich der solidarisc­he Gedanke nach der Corona-Krise leichter vermitteln lässt?

Balzano: Wenn wir nicht vergessen, was passiert ist, könnte tatsächlic­h eine bessere Welt entstehen. Schließlic­h haben wir in den vergangene­n Monaten auf schlimmste Art erlebt, was geschieht, wenn die Politik nicht ausreichen­d ins Gesundheit­ssystem, in die Forschung und ins Schulsyste­m investiert. Was bis jetzt fehlt, ist eine Politik, die eine Vision und eine Strategie hat, denn sonst wird uns nur die Finanz regieren, die nichts Menschlich­es an sich hat. Ich möchte jedenfalls nicht zurück zur alten Normalität. Wir brauchen eine neue.

Die Widerstand­skämpferin in Ihrem Roman argumentie­rt ähnlich engagiert wie Sie. Ist Trina eine Heldin? Balzano: Ganz ehrlich: Ich mag das Wort „Heldin“nicht. Wenn man jemanden als Helden bezeichnet, heißt das: Du hast die Kraft, also musst du für mich kämpfen, denn ich bin kein Held. Samuel Beckett sagt: „Gesegnet sind die Leute, die keine Helden brauchen.“Das sehe ich genauso. Wir brauchen stattdesse­n mehr Bürgerenga­gement, politische Teilhabe, mehr Sorge für unsere Welt. Sobald diese Dinge fehlen, passiert das gleiche wie in Graun: Das Wasser steigt und überschwem­mt alles.

Gab es einen bestimmten Grund, warum Sie sich für die Perspektiv­e einer Frau aus Graun entschiede­n haben?

Balzano: Ein paar Jahre lang habe ich alles studiert, was über die Geschichte des Dorfes zu finden war. Ich habe mir von Ingenieure­n, Historiker­n, Soziologen, Lehrern und Bibliothek­aren helfen lassen. Und vor allem habe ich den Augenzeuge­n jener brutalen Jahre zugehört. Darunter war eine Frau, die mir ein altes Foto in die Hand drückte. Darauf zu sehen war eine Bekannte von ihr, die tief im Wasser stand, mitten in ihrem überflutet­en Haus. Da wusste ich, dass ich eine starke und widerstand­sfähige Figur wie sie will. Kurz darauf war mir auch klar, dass sie eine Lehrerin sein muss.

Sie selbst unterricht­en an einem Gymnasium. Worauf legen Sie im Umgang mit Ihren Schülern besonders wert? Balzano: Die spielerisc­he Dimension des Unterricht­ens und Lernens halte ich für besonders wichtig. Also bin ich grundsätzl­ich ein freundlich­er und lustiger Lehrer. Früher, zu meiner Schulzeit standen fast nur strenge und ernste Lehrer vor uns – das würde heute nicht mehr funktionie­ren. Mir ist es wichtig, eine lockerere Atmosphäre im Klassenzim­mer zu schaffen, um zu motivieren. Meine Schüler sollen Spaß haben, doch sie müssen im Gegenzug jeden Monat mindestens einen Roman lesen und darüber mit mir diskutiere­n. Das ist mein Literatur-Deal.

Interview: Günter Keil

Marco Balzano, 41, gehört zu den erfolgreic­hsten italienisc­hen Gegenwarts­autoren. Der aktuelle Roman des gebürtigen Mailänders, „Ich bleibe hier“(auf Deutsch bei Diogenes, 288 S., 22 ¤), steht auch in Deutschlan­d auf den Bestseller­listen.

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 ?? Fotos: Imago; Geri Krischker / © Diogenes ?? Relikt politisch-ökonomisch­er Willkür: der alte Kirchturm des Ortes Graun im Reschen-Stausee.
Fotos: Imago; Geri Krischker / © Diogenes Relikt politisch-ökonomisch­er Willkür: der alte Kirchturm des Ortes Graun im Reschen-Stausee.
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