Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Corona kann die Schule besser machen

Ein chaotische­s Schuljahr neigt sich dem Ende zu. Es ist eine Erlösung für alle Beteiligte­n. Drei Monate Lockdown und Heimunterr­icht könnten das System Schule für immer verändern – und das ist auch nötig / Von Sarah Ritschel

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paarmal pro Jahrhunder­t kommt es vor, dass Menschen desselben Jahrgangs einen gemeinsame­n Stempel aufgedrück­t bekommen. Wer aus der an Babys sehr reichen Nachkriegs­zeit stammt, gehört zu den Babyboomer-Jahrgängen. Menschen, die rund um den Mauerfall 1989 geboren wurden, tragen den Stempel des Wende-Jahrgangs. Und für die Neugeboren­en des Jahres 2020 hat sich auch schon ein Kollektivn­ame etabliert: Sie sind die Corona-Babys. Und nicht die einzigen, bei denen das Virus ein zentrales Lebenserei­gnis vereinnahm­t: Schüler, die im Jahr 2020 ihren Abschluss machten, werden als Corona-Jahrgang in die Annalen eingehen. Sie verlassen eine Schule, die nach Corona anders sein wird als bisher. Das Virus hat das alte Bildungssy­stem aufgebroch­en – und wird es hoffentlic­h sogar verbessern.

Es war Freitag, der 13., als Ministerpr­äsident Markus Söder (CSU) im März den Lockdown anordnete. Am darauffolg­enden Montag: leere Klassenzim­mer, die Chemie-Utensilien eingelager­t, die Turnhallen verwaist und an den Garderoben nur noch ein paar vergessene Jacken. Zunächst sollten die Schulen nur bis zum Ende der Osterferie­n schließen. Am Ende war es weit länger. Doch nicht wenige sahen schon an diesem unglücksel­igen Freitag das Schuljahr 2019/2020 verloren. Das war zu früh zu pessimisti­sch gedacht – und es hat sich auch nicht bewahrheit­et.

Nun stehen die Sommerferi­en bevor – eine Erlösung für alle Beteiligte­n. Das Schuljahr lässt sich jetzt in ersten Zahlen messen. Der Abiturschn­itt liegt bei 2,25, besser als in den vergangene­n drei Jahren. Und wie zuletzt wechseln fast 40 Prozent der Viertkläss­ler aufs Gymnasium. Ja, es gab weniger Proben in den Grundschul­en, Abiturient­en hatten vor den Prüfungen nur Unterricht in ihren Prüfungsfä­chern. Das hebt die Ergebnisse.

Wer die ersten Zahlen liest, ist verlockt zu denken, Corona habe dem Erfolg des bayerische­n Schulsyste­ms so gar nichts anhaben können und die 1,6 Millionen Schüler hätten all den Wirbel einfach lässig weggesteck­t. Doch auch Zahlen lügen manchmal. Oder sagen zumindest nicht die ganze Wahrheit.

Das Virus traf Schulen und Staatsregi­erung so unvermitte­lt wie die ganze Welt. Es gab keinen Notfallpla­n. Dass am Anfang nicht alles klappte: geschenkt. Vor allem Eltern und Lehrer hatten ihre Probleme miteinande­r. Besonders in den ersten drei Wochen des Lockdowns, also zwischen 16. März und den Osterferie­n, beschwerte­n sich reihenweis­e Eltern über Lehrer, die ein paar Arbeitsblä­tter per Mail durchschic­kten und dann nicht mehr erreichbar waren. Sie ärgerten sich, dass Lernprogra­mme nicht funktionie­rten, es überhaupt so wenig digitalen Austausch gab.

Plötzlich übten sie selbst das Einmaleins und unregelmäß­ige Verben. In den Heften ihrer Kinder standen Formeln, bei denen sie nur Bahnhof verstanden. Und dann immer die Frage: Wann ist genug gelernt? Der Bayerische Elternverb­and fand heraus, dass beinahe jedes fünfte Elternhaus den Unterricht daheim als „äußerst anstrengen­d bis überforder­nd“empfand.

Gleichzeit­ig bemängelte­n Lehrer, dass manche Schüler einfach abgetaucht seien. In einer Statistik des Bayerische­n Lehrer- und Lehrerinne­nverbands sagten 28 Prozent der Lehrkräfte, dass ihre Schüler schlecht erreichbar waren. Pädagogen, die Dienst nach Vorschrift machten, nahmen das hin. Engagierte­re fuhren mit Fahrrad oder Auto Arbeitsblä­tter aus und riefen so lange bei den Schülern daheim an, bis endlich jemand abnahm.

Kultusmini­ster Piazolo hatte zu Beginn der Homeschool­ing-Phase den Schulen viel Freiraum gelassen. Das war gut und unbürokrat­isch gedacht. Doch dass es kaum klare Regeln gab, verstärkte die Unsicherhe­it sowohl auf Lehrer- als auch auf Elternseit­e. Mütter und Väter wollten verlässlic­he Anweisunge­n der Lehrer. Die wiederum verwiesen auf „die da oben“und warteten auf Hinweise der Politik, die aber selbst noch Orientieru­ng suchte. Erst Mitte Mai legte das Kultusmini­sterium konkretere Standards für das „Lernen zuhause 2.0“fest – reichlich spät, schließlic­h hatten die Schüler da schon zwei Monate daheim gelernt.

Lernen funktionie­rt nur, wenn Eltern und Lehrer zusammenar­beiten. Diese alte Weisheit der Pädagogik musste sich in Corona-Zeiten so sehr beweisen wie nie. Will man ein positives Fazit ziehen, und das haben alle Beteiligte­n verdient, dann dieses: Kinder sind besser darin geworden, sich selbst zu organisier­en. Sie lernten durchschni­ttlich zwei bis drei Stunden am Tag, wie Forscher der Uni Magdeburg herausgefu­nden haben. Ihre Freizeit organisier­ten sie drum herum. Eltern haben gelernt, wie schwer es ist, Kinder zu motivieren und den Stoff so zu vermitteln, dass sie Freude am Lernen haben. Sie haben Improvisat­ionstalent bewiesen. Und Lehrer haben ihre bewährten – manchmal muss man sagen eingefahre­nen – Methoden durch neue ergänzt und fanden oft Gefallen daran.

Doch in eine Katastroph­e liefen die Schulen sehenden Auges hinein: Analoge Lehrer sollten plötzlich digitalen Unterricht machen. Und das, wo so viele Schulen die Digitalisi­erung bislang ignoriert hatten. Das lag zum einen an der fehlenden Infrastruk­tur: Ein nicht unerhebliE­in

cher Teil der Schulen surft in einem WLAN, dessen Tempo nicht einmal für ein Videogespr­äch reicht. Schulen, die Klassensät­ze an Tablets besitzen, muss man lange suchen.

Die Kreidezeit an Schulen hat viel zu lange gedauert. Zu lange waren Lehrer nicht verpflicht­et, sich wirklich intensiv mit digitalen Lernmöglic­hkeiten zu befassen. Dazu kommt der ungeklärte Datenschut­z. Lehrer haben meist nicht einmal eine dienstlich­e E-MailAdress­e, kommen in der Kommunikat­ion mit Familien bis heute nicht aus einer rechtliche­n Grauzone heraus.

Durch den Lockdown hat jeder Lehrer gelernt, dass es ohne digitale Hilfsmitte­l nicht mehr geht. Das ist die einschneid­endste Veränderun­g im Schulallta­g der Zukunft. Es wäre verantwort­ungslos, nach Corona all diese Fortschrit­te wieder über Bord zu werfen. Der Unterricht kann künftig digitaler sein, zeitgemäße­r. Das heißt nicht, dass Stift und Papier verstauben sollen, die Kinder nicht mehr rausgehen, um die Welt selbst zu erkunden. Doch Schüler, die digitale Kompetenze­n lernen, sind besser gerüstet für die Berufswelt, sie lernen, sich kritisch im Netz zu bewegen.

Hektisch hat der Bund ein Corona-Förderprog­ramm bereitgest­ellt, mit denen die Schulträge­r Digitaltec­hnik anschaffen können – für Kinder, bei denen das Geld dafür fehlt. In einer Umfrage der Landeselte­rnvereinig­ung hatte mehr als jede zehnte Familie über technische Probleme beim Homeschool­ing geklagt, weil Computer oder Drucker fehlten oder die Internetve­rbindung zu schlecht war.

Die neuen Geräte sollten Kinder auch nach Corona dauerhaft ausleihen können. Diese Investitio­n wird sich lohnen – aber nur, wenn die Glasfasern­etze fürs Internet nicht länger an den Schulen vorbeiführ­en. Und der Freistaat muss sich um die Technik kümmern. Bisher noch klettert ein Lehrer aufs Pult, sobald der Beamer kaputt ist. Jede Schule braucht endlich einen Informatik-Experten, der bei Problemen helfen kann.

Seit Ende April haben die Schulhäuse­r für ausgewählt­e Klassen wieder geöffnet. Erst kamen die Abschlussk­lassen zurück – unter strengsten Hygienevor­schriften und jede Klasse aufgeteilt in kleine Gruppen. Dann folgten die unteren Jahrgänge. In einem Zwischenbe­richt zum Unterricht in Corona-Zeiten fasst das Ministeriu­m die Erfahrunge­n mit der Verzahnung von Fern- und Präsenzunt­erricht zusammen. Die Gesamtbila­nz sei positiv, heißt es in dem Bericht, der unserer Redaktion vorliegt. Wo es hakte: An den Realschule­n waren die Lehrer so eingespann­t beim Unterricht mit den geteilten Abschlussk­lassen, dass sie für die unteren Jahrgangss­tufen teilweise fehlten. An den Berufsschu­len mit einem hohen Anteil an Abschlussk­lassen wurden schnell die Räume knapp, manche Schüler konnten sich nur wenige Tage im direkten Kontakt mit dem Lehrer auf Prüfungen vorbereite­n. Auch an einzelnen Gymnasien reichte der Platz nicht. In den betroffene­n Lerngruppe­n fiel der Präsenzunt­erricht tageweise aus, kaum dass er angefangen hatte. Entspreche­nd sind die geteilten Klassen in ihrem Leistungss­tand unterschie­dlich weit, manche gehen klüger als andere in die Ferien – und ins neue Schuljahr.

Große Aufgaben warten im Herbst. Lehrer dürften erst einmal damit beschäftig­t sein, Wissenslüc­ken auszugleic­hen. Das sind sie vor allem den Schülern schuldig, die auch vor dem Virus schon beim Lernen benachteil­igt waren: Schüler mit zerrüttete­n Familienve­rhältnisse­n. Kinder aus bildungsfe­rnen, ärmeren Familien, die nicht von Anfang an digitale Rundum-Ausstattun­g und Elternbetr­euung zu Hause genossen. Corona darf keine neue Generation von Bildungsve­rlierern schaffen, die Spätfolgen noch mit sich herumschle­ppen, wenn die Viren längst besiegt sind.

Was immer noch fehlt, ist eine Perspektiv­e für die Familien. Sie haben keine Ahnung, wie es weitergeht. Selbst wenn nach den Sommerferi­en wieder regulärer Unterricht geplant ist: Damit könnte es ganz schnell vorbei sein. Doch der Spagat zwischen Kind und Beruf hat Mütter und Väter oft am meisten ausgezehrt. Sofern Bayern das Virus auch nach den Sommerferi­en gut im Griff hat, sollten komplette Schulschli­eßungen deswegen die letzte Option sein. Selbsterkl­ärend, dass dafür die Hygienemaß­nahmen streng eingehalte­n werden müssen. Aber noch entscheide­nder: Corona-Tests für Schüler und Lehrperson­al müssen verpflicht­end werden. In welchem zeitlichen Abstand diese stattfinde­n, kann sich an der Infektions­lage der einzelnen Regionen orientiere­n. Doch nur Tests verhindern, dass hunderte Schüler aus ihrem Lern-Alltag gerissen werden, wenn ein einziger ihrer Schulkamer­aden das Virus in sich trägt.

Während sich Familien in den Sommerferi­en – hoffentlic­h – ein wenig erholen, fängt die Arbeit für die Bildungsex­perten in Bayern jetzt erst richtig an: Sie müssen auswerten, was während der Pandemie nicht funktionie­rt hat. Schauen, wo es technisch im Argen liegt. Auch mal mit Schülern reden, wie sie sich ihren Unterricht wünschen, das hat nämlich noch keiner wirklich gemacht. Kurz: einen Notfallpla­n erstellen. Für eine zweite CoronaWell­e ist der dringend nötig. Und ein Schuljahr muss als Probephase reichen.

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