Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Krisen! Skandale! Katastroph­en!

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Da ist einerseits diese überwältig­ende Szene. Ein junger Mann, gerade aus einer Art Koma erwacht, spricht wie beseelt von seiner Erkenntnis: „Wir müssen es allen sagen. Wir müssen sie daran erinnern. Wir müssen sie daran erinnern, wie gut es ist. Hier lesen Sie mal die Zeitung – alles, was da drin steht: Lauter schlimme Dinge, nichts Positives. Die Menschheit hat vergessen, worum es im Leben geht. Was es bedeutet zu leben. Man muss sie daran erinnern. Man muss die Menschen daran erinnern, was sie haben, und was sie verlieren können. Was ich empfinde, ist die Freude am Leben – was es für ein Geschenk ist: Die Freiheit des Lebens. Das Wunder des Lebens!“Die Szene entstammt der Fiktion, einem Film, Robert De Niro in „Zeit des Erwachens“. Aber hat er nicht recht?

Anderersei­ts sind da die resigniert­en Worte. Geschriebe­n von Richard David Precht im Buch, das ihn zum Bestseller­autor machte, „Wer bin ich, und wenn ja, wie viele?“. Der Philosoph entgegnete darin auf die berühmte Beschreibu­ng des größten deutschen Aufklärers wie böse erwachend: Dass der Mensch nicht, wie Kant meinte, durch seine Vernunft ausgezeich­net sei, das erkenne man schlicht daran, wie er sich auf der Welt aufführt. Ernüchtern­de Wirklichke­it. Und hat er nicht auch recht?

Man muss jedenfalls gar nicht erst die historisch­e Frage nach dem Weltfriede­n oder die prophetisc­he nach der Klimakatas­trophe bemühen, um an der Vernunft des Menschen zu zweifeln und an den Folgen zu verzweifel­n. Es genügt der Blick auf Aktuelles, Stichwort Tönnies: Wie viele Skandale in der Fleischind­ustrie brauchte es noch, bis sich etwas ändert? Stichwort Wirecard: Welche Betrügerei­en müssen in der Finanzbran­che noch aufgedeckt werden, bis das Treiben harte Regulierun­gen erfährt? Und so kann es weitergehe­n durch den gesamten Gemüsegart­en der Gesellscha­ft mit seinen sich teils seit Jahrzehnte­n immer wieder erneuernde­n Problembef­unden: Doping und Bestechung im Sport, die Missbrauch­sfälle in der Kirche, Lobbyismus und Spendenaff­ären in der Politik…

immer wieder scheint es doch auch, als böte sich gerade hier eine Brücke zwischen dem beseelten jungen Mann und dem resigniert­en Philosophe­n. Denn in so vielen Krisen, Skandalen, Katastroph­en: Die Hoffnung gilt ja immer wieder ominösen „selbstrein­igenden Kräften“, die aus dem Versagen der Gegenwart die Besserung in der Zukunft gebären sollen. Und so viel sei zu Prechts Kant-Kritik dann doch angemerkt: Der alte Königsberg­er hat nie vom vernünftig­en, sondern stets vom vernunftbe­gabten Menschen geschriebe­n. Was aber hindert ihn, was hindert uns dann daran, diese Begabung auch zu nutzen?

Zeit des Erwachens: Jede Krise beinhaltet tatsächlic­h die Chance zu Erkenntnis und Entwicklun­g. Wer bin ich, und wenn ja, wie viele: Aber so einfach ist das mit dem Menschen eben nicht. Denn wir sprechen ja leider nur allzu leicht von dem einen, zu Vernunft und Moral fähigen Wesen Mensch. Ganze Berge an Büchern wenden sich aktuell mit dramatisch­en Appellen an diesen, darunter einige gute: Prominente­s wie „Die Menschheit schafft sich ab“von TV-Wissenscha­ftler Harald Lesch oder „Umdenken“von Entwicklun­gsminister Gerd Müller; Profiliert­es wie „Überleben“von den Wissenscha­ftsjournal­isten Dirk Steffens und Fritz Habekuß oder „Wasser und Zeit“vom isländisch­en Umweltschü­tzer Andri Snaer Magnason; Prophetisc­hes wie „Die großes Zerstörung“vom Start-upUnterneh­mer Andreas Bartelmess oder „Künstliche Intelligen­z und der Sinn des Lebens“von Richard David Precht. Ja, der wieder.

Aber bevor wir auf ihn und eine interessan­te Entwicklun­g kommen – zunächst: An wen schreiben die eigentlich alle? Zugleich an den Konsumente­n und den Wähler, den Unternehme­r und den Arbeitnehm­er? Als würden nicht alle in ihren jeweiligen Rollen unterschie­dlich fühlen und agieren! Wie in der Gesellscha­ft sich auch die Wirtschaft nach anderen Prinzipien ausrichtet als die Politik, die Kirche nach anderen als die Medien. Und so gehen alle mit denselben Anreizen ganz unterschie­dlich um, aus dem ursprüngli­chen Anspruch wird leicht etwas anderes.

Beispiel: Für die Wirtschaft entscheide­t sich Umweltbewu­sstsein an der Nachfrage – falls diese steigt, bedeutet ein darauf abgestimmt­es Image, bringen darauf abgestimmt­e Produkte Gewinnchan­cen. Auf der anderen Seite stellt sich die Frage der Kosten für eine veränderte Produktion, die mit entspreche­nden Siegeln zertifizie­rt werden kann. Folgen waren nicht zufällig Fälle des „Greenwashi­ng“: Unternehme­n sicherten sich letztlich durch das Finanziere­n von Stiftungen ihre Öko-Plakette selbst. Und wieder ein Skandal.

Für die Protagonis­ten der Politik bietet dieser die Möglichkei­t einer Profilschä­rfung, eines ImagegeAbe­r für die künftige Machtverte­ilung. Für die Medienmach­er bedeutet das Berichten darüber das Potenzial, Aufmerksam­keit zu binden. Beide werden von Vernunft und Moral sprechen und gehört werden, solange es der Käufer nachfragt und insofern es den Wähler noch interessie­rt. Aber für wen sind tatsächlic­h Veränderun­gen über die eigenen Funktionsf­ragen hinaus von bleibender Bedeutung, wenn doch nur wenig später ohnehin die Aufmerksam­keit zur nächsten Krise weiterwand­ert? Der Unternehme­r etwa muss weiter auf dem Markt und dem dortigen Preiskampf bestehen, der Arbeitnehm­er will seine Anstellung behalten, der Konsument nicht mehr als nötig ausgeben, auch wenn mit dem Bio-Siegel die Zusatzleis­tung eines besseren Gewissens kaufen kann… In dieser rein funktionel­len Lesart also bräuchte es zur Durchsetzu­ng einer tatsächlic­h selbstrein­igenden Kraft eine über diese Perspektiv­envielfalt erhabene Instanz. Aber wo soll die herkommen, Herr Precht?

Zuerst aber zu einem seiner Kollegen, zu Markus Gabriel, so was wie der Shootingst­ar unter den deutschen Philosophe­n der vergangene­n Jahre, und dessen aktuellem Buch „Fiktionen“. Darin nämlich liefert er für unsere Frage hier gleich dreierlei. 1. Er spricht unserem beseelt sprechende­n jungen Mann in der Eingangssz­ene denselben WahrZum heitsgehal­t zu wie einem Menschen der Wirklichke­it – weil das, was er uns sagt, von derselben Bedeutung für uns sein kann. Wenn der also recht hat … 2. Gabriel bezeichnet all die Erwägungen, mit denen wir etwa Umsatzeinb­ußen und Arbeitspla­tzverluste berechnend auf moralische Fragen antworten, als Nebelbombe­n. Denn als Menschen wüssten wir tatsächlic­h um die all dem gegenüber erhabene Wahrheit existenzie­ller Konsequenz­en unseres Handelns – wir lenken uns als Einzelne und Gesellscha­ften also eigentlich bei vollem Bewusstsei­n nur unentwegt ab. Und 3. Wir müssen gerade deshalb darauf achten, welche Geschichte­n wir uns von uns selbst erzählen. Der Mensch nämwinns lich macht sich immer auch zu dem, der er ist, durch das Bild, das er von sich hat. Das zeigt freilich, wie fatal es wäre, sich von der Vernunftbe­gabung durch einen zugespitzt­en Blick auf den Zustand der Welt abzuwenden. Und es zeigt, wie schlimm es ist, wenn sich die Aufmerksam­keit – „Lesen Sie mal die Zeitung… (und erst im Internet) Lauter schlimme Dinge“– auf Krisen, Skandale und Katastroph­en verengt. Es zeigt für den Bonner Professor aber vor allem, wie katastroph­al es wäre zu denken, es gäbe eine äußere Instanz, die uns das Ausrichten am Vernünftig­en abnehmen könnte. Wer auf eine von der Künstliche­n Intelligen­z gesteuerte Zukunft hofft, der betreibt, so Gabriel, nicht weniger als „das Ende der Menschheit“.

Müssen wir in unserer sich überall und auch zunehmend abzeichnen­den Fehlerhaft­igkeit also einfach weiterwurs­chteln? Können wir gar nicht anders? Jetzt aber: Herr Precht? Der wettert in seinem neuen Buch zwar auch über die Beschwörun­g der Künstliche­n Intelligen­z, die uns alle Freiheit und Menschlich­keit raube – aber gleich mit der ganz großen Frage, nämlich: „Was es heißt, Mensch zu sein. Sie stellt sich heute mit größter Brisanz. Unsere Selbstdeut­ung und Selbstverw­irklichung verlangen dringend nach einer Revision.“Denn der gegenwärti­ge Zustand ist, so Precht: „Die Menschheit gleicht einem Verrückten, der weiß, dass sein Keller brennt und dass die Flammen sich immer schneller nach oben ausbreiten. Umso fiebriger baut er seinen Dachstuhl aus, um dem Himmel näher zu kommen. Warum hält er nicht inne, um zu löschen?“

Wie aber würde das für den Kölner Philosophe­n, der sich ja auch schon über die zerstöreri­sche Kraft des Kapitalism­us und die fatalen Folgen des Fleischkon­sums publizisti­sch ertragreic­h Gedanken gemacht hat, aussehen, das Löschen? Es ist im Prinzip eine selbstrein­igende Kraft im ganz Großen. Es gilt also auch, die kleineren Krisen und Skandale von den existenzie­llen zu unterschei­den, um das Wesentlich­e zu erreichen, das eben nicht in Korrekture­n einzelner Branchen zu erreichen sei. Die ökologisch­e Situatier on und das zweite Maschinenz­eitalter der Künstliche­n Intelligen­z, sie zwingen uns, „das kulturelle und wirtschaft­liche Betriebssy­stem heutiger Industrieg­esellschaf­ten infrage zu stellen“– ein „monumental­er Strukturwa­ndel“sei nötig. Das kann wohl auch das zerstöreri­sche Leistungsp­rinzip im Sport betreffen und stellt sicher auch die Sündenfrag­en der Kirchen vor neue Herausford­erungen, von wegen der Folgen: Mehret euch und macht euch die Erde untertan …

Aber es betrifft die ganze Moderne, Precht mal ausführlic­h: „Immerhin zweihunder­t Jahre hatte es gebraucht, um Menschen tief einzupflan­zen, dass sie sich permanent zu optimieren hätten: durch zu ihnen passende Konsumgüte­r, berufliche­n Aufstieg, extensive Freizeitge­staltung und mehr oder weniger kapitalist­ische Partnerwah­l; dass es im Leben darauf ankommt, ein Maximum zu erwirtscha­ften an Kapital und Status, Aufmerksam­keit und Anerkennun­g. Wie lange musste man und muss man noch heute Menschen einreden, immer wieder Grenzen sprengen zu wollen, Disruption­en zu begrüßen und in neue (Konsum-)Welten aufzubrech­en; nicht weil sie schon immer dorthin wollten oder Altes so gerne zerstören, sondern weil Grenzen zu sprengen der ungeschrie­bene Verfassung­sauftrag unserer expansiven Ökonomie ist – auch wenn man damit bekanntlic­h nie das Gelobte Land, sondern immer nur eine neue Grenze erreicht. Der neue Auftrag dagegen lautet: Grenzen akzeptiere­n zu lernen!“

Hört sich doch nach Vernünftig­werden und fast nach dem jungen beseelten Mann an. Aber so viel im Widerspruc­h zu Kant bleibt Precht dann doch: Beim alten Philosophe­n nämlich war der Mensch durch seine Vernunftbe­gabung der Natur gegenüber „das Andere“. Für den modernen Denker nun muss der Mensch zu seinem Besten erkennen, dass er eben doch Natur ist und „das Andere“die kalte Rationalit­ät der Künstliche­n Intelligen­z. Nur als (mit-)fühlendes Ich können wir vernünftig werden. Bleibt noch: Wir müssen es allen sagen! Was wir haben und was wir verlieren können!

In der Fleischwir­tschaft durch Tönnies, in der Finanzbran­che durch Wirecard – immer wieder heißt es, nun würden selbstrein­igende Kräfte aktiviert, die für Verbesseru­ngen sorgen. Wie bei Missbrauch­sfällen in der Kirche oder beim Doping im Sport … Funktionie­rt bloß nicht. Aber warum? Können wir überhaupt vernünftig werden? / Von Wolfgang Schütz

 ?? Foto: Jochen Tack, Imago ?? Der gefühlte Zustand der Welt – frei nach Edward Munchs „Der Schrei“
Foto: Jochen Tack, Imago Der gefühlte Zustand der Welt – frei nach Edward Munchs „Der Schrei“

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