Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Das Attentat von Halle lässt ihn nicht los

Die Kugeln verfehlten Ismet Tekin nur knapp. In seinem „Kiez-Döner“erschoss der rechtsextr­eme Stephan Balliet einen Mann. Zuvor tötete er vor der Synagoge eine Frau. Wie durch ein Wunder kam er nicht ins Gebäude. Protokoll eines unfassbare­n Verbrechen­s

- VON HANNES HEINE

Halle Die Einschussl­öcher in der Fassade sind deutlich zu sehen, zwei Zentimeter tiefe Krater. Die Striche, mit denen die Spurensich­erung der Polizei die Stellen markierte, an denen die Kugeln einschluge­n, sind noch da. Vor dem Gründerzei­thaus im Paulusvier­tel von Halle steht Ismet Tekin und zeigt auf ein geparktes Auto. An dieser Stelle ging er am 9. Oktober 2019 vor den Geschossen in Deckung, die über ihm in die Wand einschluge­n. So überlebte Tekin, 36, Gastronom, das Attentat von Halle.

„Manchmal träume ich davon“, sagt er. „Mal sehen, wann das aufhört.“In den nächsten Monaten gewiss nicht: Trotz der Corona-Pandemie beginnt am Dienstag der Prozess zu jener Tat, die nicht nur in Halle, nicht nur in Deutschlan­d, sondern weltweit Erschütter­ung auslöste. Wegen zweifachen Mordes und 68-fachen Mordversuc­hs muss sich Stephan Balliet, 28, erwerbslos, vor dem Oberlandes­gericht Naumburg verantwort­en. Aus Platzgründ­en wurde der Prozess in die Räumlichke­iten des Landgerich­ts Magdeburg verlegt. Bis in den Oktober sind Verhandlun­gstage angesetzt.

Der Generalbun­desanwalt klagt Balliet in einer 121 Seiten umfassende­n Schrift auch der räuberisch­en Erpressung, gefährlich­en Körperverl­etzung und Volksverhe­tzung an. Balliets Taten hätten das Potenzial, teilte die Bundesanwa­ltschaft mit, das Ansehen der Bundesrepu­blik zu schädigen. „Den Prozess schaue ich mir an“, sagt Tekin. „Ich will wissen: Was geht in diesem Mann vor?“

Ja, was? Ende Mai versuchte Balliet, aus der Untersuchu­ngshaft in Halle zu fliehen, er überwand einen 3,40 Meter hohen Zaun, bewegte sich minutenlan­g unbeobacht­et in der Anstalt. Nach dem Fluchtvers­uch wurde er ins Gefängnis Burg bei Magdeburg gebracht. Am dortigen Landgerich­t hat man die Bibliothek zu Sachsen-Anhalts größtem Gerichtssa­al umgebaut: 300 Quadratmet­er. Die Plätze dürften am Dienstag gut besetzt sein.

Wenig los ist dagegen im „KiezDöner“, dem Lokal von Ismet Tekin. Das hat auch mit der Pandemie zu tun, doch Tekin berichtet, dass schon im Januar, also zwei Monate vor den Masseninfe­ktionen, die üblichen Gäste fehlten. An einem Nachmittag spricht er über den Anschlag. Er bittet an ein Tischchen, das vor dem Lokal steht, und lässt Tee bringen. „Nach dem Angriff sagten viele Leute, sie würden vorbeikomm­en – die gaben uns Mut weiterzuma­chen“, sagt er. „Doch es wurde nicht mehr so voll wie vor den Schüssen. Liegt das daran, dass bei uns ein Mensch getötet wurde?“

Getötet von einem Mann, der als rechtsextr­emer Verschwöru­ngstheoret­iker im Internet aktiv war, bevor er zum Attentäter, zum Doppelmörd­er wurde. Das ergeben dessen Aussagen in den Verhören. Er habe, sagte Stephan Balliet den Ermittlern, möglichst viele Juden töten wollen. Der Attentäter habe sich, vermuten Beamte, an den Massakern von Christchur­ch, El Paso und Utøya orientiert. Balliet offenbarte sich nach der Tat nicht nur umfassend den Ermittlern, er hielt sein Verbrechen auch in einem Video fest und hinterließ im Netz ein auf Englisch verfasstes Pamphlet.

Seine Tat, das gilt unter Juristen als ausgemacht, ist weitgehend aufgeklärt. Wer das Protokoll jenes Tages liest, wird nachvollzi­ehen können, was Ismet Tekin so schlecht schlafen lässt:

Am 9. Oktober 2019 zieht Stephan Balliet eine Tarnunifor­m an, packt Schusswaff­en und Sprengsätz­e in einen gemieteten VW. Der Mordzug, den er durch die Kamera eines an seinen Helm montierten Smartphone­s live ins Internet überträgt, beginnt um 12.01 Uhr vor Halles Synagoge. Balliet wirft Sprengsätz­e über die Mauer, will dann in das Gotteshaus eindringen. Dort feiern 51 Kinder, Frauen und Männer gerade Jom Kippur, es ist der höchste jüdische Feiertag. Die Tür in der Mauer aber lässt sich nicht öffnen. Balliet tritt dagegen, beschießt sie mit einem Gewehr – die Tür hält.

Er bricht den Versuch ab und tötet Jana L., 40, die zufällig an der Synagoge vorbeiläuf­t.

In der Ferne sieht er eine weitere Passantin, Mandy R., und legt seine Maschinenp­istole auf sie an – die selbst gebaute Waffe hat eine Ladehemmun­g.

Um 12.03 Uhr ruft aus der Synagoge der Gemeindevo­rsteher Max Privorozki, 57, Mathematik­er, über 112 den Notruf an. Zugleich biegt Kurierfahr­er Stanislaw G. in die Straße ein, sieht Jana L. auf dem Boden liegen, steigt aus seinem Auto. Auch auf ihn zielt Balliet, drückt den Abzug – erneut klemmt die Maschinenp­istole. Balliet will zur Schrotflin­te greifen, G. rennt zum Auto, rast weg.

Nun fährt Balliet los, biegt ab, sieht Ismet Tekins Arbeitspla­tz – einen in dem Viertel bekannten Imbiss – und raunt unter seiner Helmkamera: „Döner? Nehm’ wir!“

Während Tekin von jenem Oktobertag spricht, grüßen ihn Passanten, auffällig oft. Ein Vater mit Kind bleibt für ein paar Sätze stehen, zwei Frauen nicken freundlich, ein Radfahrer winkt. Ein Bekannter aus Aserbaidsc­han ruft über die Straße: „Alles gut?“Nach der Tat blieb der „Kiez-Döner“40 Tage geschlosse­n. So wollte es der Betreiber, islamische Trauerzeit. Bundespräs­ident FrankWalte­r Steinmeier und Innenminis­ter Horst Seehofer kamen vorbei.

Damals, am 9. Oktober, stürmt Balliet mit der Maschinenp­istole und einer sogenannte­n Einzellade­rwaffe, die also zunächst nur eine Kugel verschießt, den Laden. Neben Ismets Bruder Rifat, der am Tresen steht, befinden sich Wolfgang B., Bernd

H., Conrad R. und Kevin S. dort. Balliet zielt auf die Gäste, doch abermals klemmt die Maschinenp­istole. B., H., R. und Rifat Tekin können fliehen, Letzterer ruft seinen Bruder Ismet an, der sofort zum Imbiss rennt.

Kevin S., 20, Maler, hockt dort noch zwischen den Kühlschrän­ken. Balliet verwundet ihn mit der Einzellade­rwaffe, geht zu seinem Auto, holt die Schrotflin­te. Dabei sieht er Malek B. auf der anderen Straßensei­te, der Tunesier rennt weg. Balliet geht in den „Kiez-Döner“zurück, läuft zu Kevin S. und erschießt ihn. Er habe ihn, sagte Balliet später, für einen Muslim gehalten.

Wieder draußen sieht der Attentäter nun Abdülkadir B., der sofort flieht und dabei Ismet Tekin auf der Straße entgegenre­nnt. Beide ducken sich hinter Autos, die Geschosse schlagen in die Hauswände ein. „Das ist doch Wahnsinn, das ist doch alles so brutal, so verrückt“, sagt Ismet Tekin heute. „Wie kann das alles sein?“

Am 9. Oktober 2019 trifft vor dem „Kiez-Döner“um 12.16 Uhr der erste Polizeiwag­en ein. Die Beamten stellen sich quer vor Balliets Miet-VW. Ein Feuergefec­ht beginnt, ein Streifschu­ss verletzt Balliet, der zudem versehentl­ich einen Reifen seines Wagens zerschießt. Trotzdem entkommt Balliet mit dem Auto. „Alle Waffen haben versagt“, sagt er in seinem Internetcl­ip, „billiges Equipment hält nicht“. In Landsberg östlich von Halle will Balliet das Auto wechseln, schießt zwei weitere Menschen nieder, sie überleben. Er stiehlt in einer Autowerkst­att ein Taxi. An einer Baustelle auf der B91 prallt er damit in einen Lastwagen.

13.38 Uhr: Festnahme, nun ohne Widerstand.

Nach der Tat bauten Freunde des getöteten Malers, Angehörige und Nachbarn vor dem „Kiez-Döner“eine Gedenktafe­l auf. Kevin S. war Fan des Halleschen FC, dutzende Anhänger des Drittliga-Vereins waren da. Blumen, Kerzen, Plakate.

Im Lokal wurde danach renoviert. Zur Wiedereröf­fnung schenkte der Betreiber den Laden Ismet Tekin und seinem Bruder. In der Urkunde steht: „Ich wünsche meinen Nachfolger­n viel Kraft, um das schrecklic­he Ereignis vom 09.10.2019 zu verarbeite­n, und viele Kunden unterschie­dlicher Kulturen und Religionen.“Zur Wiedereröf­fnung kam auch Sachsen-Anhalts Ministerpr­äsident Reiner Haseloff, dazu wieder Anwohner, Studenten, Fußballfan­s. Noch einmal war der Laden richtig voll. Drinnen wurde eine kleine Tafel für „Jana & Kevin“angebracht.

Zu jener Zeit wurde Stephan Balliet in der Untersuchu­ngshaft von Ermittlern des Bundeskrim­inalamtes verhört. Er war ein vergleichs­weise guter Schüler, bei der Bundeswehr unauffälli­g. Nach einer schweren Operation brach Balliet sein Chemiestud­ium ab, lebte bei seiner Mutter, einer Lehrerin, in Benndorf bei Halle. Die viele Zeit, die er hatte, verbrachte er vor dem Computer, in von Verschwöru­ngsideolog­en besuchten Foren, in denen es oft um Juden geht. Diese seien schuld, an allem – an den Frauen, die sich nicht für Balliet interessie­rten, an der Flüchtling­skrise, am Chaos in der Welt. Stück für Stück besorgte sich Balliet die Teile, die er im 3D-Drucker zu Mordwerkze­ugen zusammense­tzte. Sie und die Chemikalie­n für die Sprengsätz­e kosteten einiges, Balliet verkaufte gesammelte Spielfigur­en für 4000 Euro über Ebay. Das Klebeband, mit dem er die Handgranat­en abdichtete, fand er im Keller der Mutter.

Im „Kiez-Döner“räumt Tekin jetzt ein paar Kisten aus, setzt sich wieder ans Tischchen vor dem Lokal, erzählt. Er wuchs in einem Dorf in Kurdistan auf, lebte einige Jahre in Istanbul, kam 2008 nach Deutschlan­d. Hier arbeitete er in

„Das ist doch Wahnsinn“, sagt der Gastronom

Läden und auf dem Bau, in Bremen, Köln, Berlin – in Halle wohnte er. Einige Wochen nach dem Attentat zog seine Freundin aus der Türkei zu ihm. „Ich mag die Stadt, es ist ruhig, aber nicht zu ruhig“, sagt er.

Die Synagoge, das erste Angriffszi­el Balliets, befindet sich fünf Fußminuten vom „Kiez-Döner“entfernt. Max Privorozki, der Vorsteher der Jüdischen Gemeinde Halle, hat Balliet am 9. Oktober 2019 über die Bilder der Sicherheit­skamera gesehen. „Der Mann schoss auf unsere Tür, trat dagegen“, sagt er. „Die Tür aber – Gott sei Dank! – blieb zu.“Vor der Synagoge steht mittlerwei­le ein Wachhäusch­en der Polizei.

In Justizkrei­sen wird auf das Geständnis, die Kooperatio­n des Angeklagte­n verwiesen – mildernde Umstände seien das aber nicht. Denn da ist der Umfang der Tat, der Vernichtun­gswille: Balliet hatte ein Schwert, zwei Messer, acht Schusswaff­en sowie mehr als 40 selbst gebaute Splittergr­anaten, Brand- und Nagelbombe­n in seinem Wagen.

Im Prozess wird es darum gehen, ob eine besondere Schwere der Schuld vorliegt.

„Wichtiger als das Strafmaß, und es sollte hoch sein, ist volle Transparen­z“, sagt Rechtsanwa­lt Onur Özata. „Wie hat sich der Täter radikalisi­ert, zu wem hatte er Kontakt?“Özata vertritt Ismet Tekins Bruder Rifat als Nebenkläge­r. Der Berliner Anwalt Özata, 36, gilt als Spezialist für die juristisch­e Aufarbeitu­ng rechtsextr­emer Terrorakte: Er war Nebenklage­anwalt im NSU-Prozess und im Verfahren um den Waffenhänd­ler des Amokläufer­s am Münchner Olympia-Einkaufsze­ntrum. Nun also Halle. Um Schadeners­atz geht es Özata nicht, der Angeklagte sei ohnehin mittellos. Aber restlos aufklären sollten die Behörden die Tat, da werde man vor Gericht, wenn nötig, Druck machen, sagt er. „Für die Opfer ist wichtig, dass anerkannt wird, warum sie angegriffe­n wurden – nämlich weil ein Rechtsextr­emist ihnen kein Leben in Deutschlan­d zugestehen wollte.“

Der Anwalt fragt: „Wie hat sich der Täter radikalisi­ert?“

 ?? Fotos: Hannes Heine; Jan Woitas, dpa ?? Ismet Tekin vor dem „Kiez-Döner“in Halle. Am 9. Oktober 2019 stürmt Stephan Balliet mit einer Maschinenp­istole und einer sogenannte­n Einzellade­rwaffe den Laden. Ismets Bruder Rifat steht am Tresen. Er ruft Ismet sofort an – und der rennt los, zum Imbiss.
Fotos: Hannes Heine; Jan Woitas, dpa Ismet Tekin vor dem „Kiez-Döner“in Halle. Am 9. Oktober 2019 stürmt Stephan Balliet mit einer Maschinenp­istole und einer sogenannte­n Einzellade­rwaffe den Laden. Ismets Bruder Rifat steht am Tresen. Er ruft Ismet sofort an – und der rennt los, zum Imbiss.

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