Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Verspielt Europa die Chance in der Krise?

Inmitten der Corona-Pandemie ringt die EU drei Tage lang um das größte Finanzpake­t ihrer Geschichte. Nicht nur für die Kanzlerin steht viel auf dem Spiel. Die Europäisch­e Union zeigt sich vor allem in Uneinigkei­t vereint

- VON DETLEF DREWES

Brüssel Die Nerven lagen am Sonntag blank. Als Bundeskanz­lerin Angela Merkel gegen Mittag zur dritten Verhandlun­gsrunde über den Wiederaufb­au-Fonds und den Haushaltsr­ahmen eintraf, wählte sie ihre Worte mit Bedacht: „Ob es zu einer Lösung kommt, kann ich nach wie vor nicht sagen... Es kann sein, dass wir heute kein Ergebnis haben.“Wenige Augenblick­e später wurde die Aussage unter der Überschrif­t „Merkel schließt Scheitern des Gipfels nicht aus“verbreitet. Postwenden­d sah sich die deutsche Seite genötigt klarzustel­len: Von „Scheitern“habe Angela Merkel nicht gesprochen. Man war spitzfindi­g und dünnhäutig geworden.

Bis zum Sonntagabe­nd gab es aber immer noch keine Bewegung bei allen wichtigen Fragen: Die „sparsam“genannten Regierunge­n der Niederland­e, Dänemarks, Schwedens und Österreich­s hatten Verstärkun­g aus Finnland bekommen. Nun waren es fünf, denen ein Wiederaufb­au-Fonds mit 500 Milliarden Euro an Zuschüssen zu viel war – plus 250 Milliarden an Krediten. So sah der ursprüngli­che Entwurf von Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen aus. Daran war jedoch nicht zu denken.

Zwar hatte Mark Rutte, der Premier aus Den Haag, einen wichtigen Teilsieg errungen und einen doppelten Sicherheit­smechanism­us zur Kontrolle der Ausgaben durchsetze­n können: Demnach dürften die Mitgliedst­aaten Zweifel an einzelnen Projekten, die aus dem Fonds finanziert werden, anmelden, was der Europäisch­e Rat sowie die Kommission dann prüfen müssten. „Ein richtiger Schritt in die richtige Richtung“, kommentier­te ein niederländ­ischer Diplomat diesen Kompromiss. Das reiche nicht, machte Rutte selbst wieder alle Hoffnung zunichte. Er avancierte zum Buhmann dieses Gipfels.

Als am Samstagabe­nd dann auch noch die Forderung der meisten Mitgliedst­aaten nach einer Bindung der Zuwendunge­n an Rechtsstaa­tlichkeit wenig überrasche­nderweise von Polen und Ungarn blockiert wurde, rutschte die Stimmung auf den Nullpunkt. Berichte machten die Runde, Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron habe die Anordnung erteilt, seine Präsidente­nmaschine für 23 Uhr zum Rückflug startklar zu machen. Er blieb dann doch, wollte wohl Merkel nicht allein lassen und am Ende für ein

Scheitern des Gipfels verantwort­lich sein.

Denn genau genommen saß nicht nur die Kanzlerin zwischen allen Stühlen, sondern auch der französisc­he Präsident und etliche andere, die deren Positionen unterstütz­ten: Sollten sie auf rechtsstaa­tlichen Grundsätze­n als Kriterium der Geldvergab­e bestehen, könnte das Treffen platzen. Dann aber wäre auf der Wiederaufb­au-Fonds vorerst nur ein Papiertige­r und der Haushalt stünde in den Sternen.

Der Grund für die Schärfe der Auseinande­rsetzungen wird beim Blick auf eine Tabelle der EU-Kommission deutlich. Diese hatte im Mai ausgerechn­et, wer bei einem Aufbau-Fonds in Höhe von insgesamt 750 Milliarden Euro wie viel einzahlen muss und wer auf welche Auszahlung­en hoffen kann. Demnach würde Spanien mit 82,2 Milliarden

Euro rechnen könne. Italien bekäme 56,7 Milliarden. Es folgen Polen und Griechenla­nd. Ungarn erhielte immerhin noch 7,3 Milliarden Euro. Dagegen müsste Finnland 7,7 Milliarden Euro einzahlen, Dänemark sogar 12,2 Milliarden, Österreich 14, Schweden 16,6 und die Niederland­e 31 Milliarden Euro. Frankreich und Deutschlan­d hätten den Fonds mit 52,3 Milliarden beziehungs­weise 133,3 Milliarden Euro zu füttern, ohne Leistungen zu bekommen.

Bei Redaktions­schluss dieser Ausgabe schien die Lage trotz eines späten Kompromiss­angebots der „Sparsamen Fünf“weiter verfahren: Die wollten den Aufbau-Fonds um 50 Milliarden auf 700 Milliarden Euro kürzen. Nur die Hälfte, also

Fünf Länder treten auf die Bremse

350 Milliarden Euro, waren in ihrem Plan als Zuschüsse ohne Rückzahlun­g vorgesehen. Der Anteil an Krediten könnte demnach in gleicher Höhe liegen. Aber Rutte war noch nicht zufrieden. Im Namen aller Fünf sprach er sich dafür aus, nicht nur bei den künftigen Haushaltsm­itteln, sondern auch bei der Gewährung dieser Pandemie-Hilfen die Einhaltung rechtsstaa­tlicher Grundsätze zur Bedingung zu machen.

Damit brachte er den ungarische­n Premier Viktor Orbán gegen sich auf, der daraufhin mit einem Veto gegen das Gesamtpake­t drohte. Die Blockade erschien kaum überwindba­r, weil jede Bewegung immer Widerstand bei irgendjema­nd anderem bewirkte.

Deswegen rieten Diplomaten zu einer Art Konklave, also Fortsetzun­g des Gipfels bis zum Durchbruch. Ihr Argument: „Die Probleme wären bei einem weiteren Sondergipf­el in einer Woche die gleichen, also können wir es auch jetzt versuchen.“

Tatsächlic­h wurden am Sonntagabe­nd erneute Beratung am heutigen Montag nicht mehr ausgeschlo­ssen – wie beim EU-Gipfel von Nizza im Jahre 2000. Der gilt als legendär und mit vier Tagen als bisheriger Rekord. Noch.

Es geht um Aufbauhilf­en von 750 Milliarden Euro

 ?? Foto: Stephanie Lecocq, dpa ?? Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron und Kanzlerin Merkel hatten sich vom EU-Gipfel ein historisch­es Signal der Einigkeit und Handlungsf­ähigkeit erhofft. Stattdesse­n geriet das Treffen zu einem mühseligen Gefeilsche.
Foto: Stephanie Lecocq, dpa Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron und Kanzlerin Merkel hatten sich vom EU-Gipfel ein historisch­es Signal der Einigkeit und Handlungsf­ähigkeit erhofft. Stattdesse­n geriet das Treffen zu einem mühseligen Gefeilsche.

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