Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Wie die Polizei Corona-Daten nutzt

Allein in Bayern zog die Polizei mindestens zehnmal Gästeliste­n aus Restaurant­s heran, um zu ermitteln. In anderen Ländern sind sie dagegen tabu. Ist das Vorgehen legal?

- VON CHRISTOF PAULUS

Augsburg Bayerns Innenminis­ter Joachim Herrmann kann den Ärger um die Nutzung von Corona-Gästeliste­n in Restaurant­s für Polizeierm­ittlungen nicht nachvollzi­ehehen. „Die Polizei geht in einem Wirtshaus einem Mordversuc­h nach und sucht Zeugen“, sagte der CSU-Politiker auf Nachfrage den Nürnberger Nachrichte­n, „nach Auffassung von FDP und Grünen sollte sie den Täter lieber laufen lassen, anstatt die Gästedaten beizuziehe­n, um den Täter zu ermitteln oder Gäste ausfindig zu machen, die etwas gesehen haben könnten“. Dies sei „völlig absurd“.

Bayernweit nutzt die Polizei die Gästedaten aus Restaurant­s, die eigentlich dazu dienen sollten, um Corona-Infektions­ketten nachzuvoll­ziehen. Das ergaben Recherchen unserer Redaktion sowie eine Umfrage der Deutschen Presse-Agentur. Bereits Anfang des Monats hatten wir berichtet, dass die Augsburger Polizei die Kontaktdat­en für die Ermittlung­en einer Straftat herangezog­en hatte. Inzwischen ist klar: Innerhalb des Freistaats war das kein Einzelfall. Tatsächlic­h ging die Polizei in gleich mehreren Regierungs­bezirken so vor.

Die Polizei in München nennt drei Fälle, in denen Gästedaten für Ermittlung­en genutzt wurden. Beim Polizeiprä­sidium Oberbayern Süd war dies zweimal der Fall, in Mittelfran­ken einmal. Auch in Schwaben und den angrenzend­en Gebieten sind nun weitere Fälle bekannt geworden. Und inzwischen ist auch die Frage beantworte­t, warum die Polizei in Augsburg die Kontaktdat­en angefragt hatte. Zunächst hatte der Pressespre­cher des Präsidiums Schwaben Nord, Michael Jakob, darauf verwiesen, dass man aus „ermittlung­staktische­n Gründen“keine genaueren Angaben machen könne. Nun teilt er mit, dass es sich dabei „um ein Diebstahls­delikt in einer Augsburger Gaststätte“gehandelt habe. „Allerdings erfolgte vonseiten der Polizei keine Einsichtna­hme in die Gästeliste sowie keine Aufzeichnu­ng der Daten.“Der Lokalbetre­iber sei lediglich dazu angehalten worden, die Gästeliste aufzubewah­ren, falls diese benötigt werden sollte. Dies sei bislang noch nicht der Fall gewesen.

Eine Zweckentfr­emdung liege dabei aus Sicht der Polizei nicht vor. Zwar dürfen die Daten laut Bayerische­m Landesamt für Datenschut­z „ausschließ­lich auf Anforderun­g des Gesundheit­samtes zur Nachverfol­gung möglicher Infektions­ketten weitergege­ben“werden. Die Polizei beruft sich jedoch auf die Strafproze­ssordnung. „Es wäre sicherlich keinem Opfer verständli­ch zu machen, dass die Polizei auf die rechtmäßig­e Nutzung derartiger Daten verzichtet und die Tat deshalb ungeklärt bleiben muss“, sagt Polizeispr­echer Jakob.

Der erste Fall, der bundesweit Aufsehen erregt hatte, war in Hamburg bekannt geworden. Dort hatte die Polizei nach einem Vorfall vor einem Restaurant die Daten genutzt, um Zeugen zu suchen. Wie in Hamburg zieht auch in Schwaben die Polizei die Kontaktdat­en nicht ausschließ­lich dazu heran, um einen Täter zu ermitteln. Im Allgäu etwa läuft aktuell die Suche nach dem vermissten Felipe Caycedo-Soler aus Ulm, der zuletzt am 23. Juni auf einer Bergtour gesehen wurde. Die

Polizei Oberstdorf habe sich erhofft, Informatio­nen von den Gästen der Hütte zu erhalten, die auf der potenziell­en Route des Vermissten lag. So schildert es Holger Stabik, der Sprecher des Polizeiprä­sidiums Schwaben Süd/West in Kempten. Mithilfe der Angaben habe man das Suchgebiet eingrenzen wollen, „die Namenserhe­bung diente also der Abwehr von Gefahren für Leib und Leben“, schreibt Stabik. Allerdings habe die Datenerheb­ung für die Vermissten­suche keine weiterführ­enden Hinweise erbracht.

„Da geht es natürlich um das Leben eines Menschen“, sagt Thomas Petri, der bayerische Beauftragt­e für Datenschut­z, angesproch­en auf die Ermittlung­en im Allgäu. Einschätzu­ngen zu Einzelfäll­en möchte er aktuell nicht abgeben, grundsätzl­ich sei eine Weitergabe der Kontaktdat­en an die Polizei nach wie vor nicht vorgesehen. Nun fordert er eine bundesweit­e gesetzlich­e Regelung, um zu klären, unter welchen Voraussetz­ungen die Polizei auf Angaben zugreifen dürfe. Bisher sei dies unklar. Die Gästedaten werden auf Basis des Infektions­schutzgese­tzes erfasst, „eine Regelung auf Zweckbindu­ng für Strafverfo­lgungsbehö­rden gibt es nicht“, sagt er. Das derzeitige Vorgehen gehe in Richtung Vorratsdat­enspeicher­ung, für die „ziemlich strenge Vorgaben“herrschten und auf die der Europäisch­e Gerichtsho­f Wert gelegt hatte, als er die Zulässigke­it geprüft hatte. „Doch das wird offenbar gerade nicht konsequent durchgezog­en“, kritisiert er.

Kritik kommt von der Opposition im Bayerische­n Landtag. „Wenn die Menschen nicht darauf vertrauen können, dass ihre Daten ausschließ­lich der Verfolgung von Infektions­ketten dienen, werden sie künftig unter falschem Namen einchecken. Oder sie werden von Gaststätte­nbesuchen

absehen“, sagt der FDPFraktio­nsvorsitze­nde Martin Hagen. „Gästedaten müssen tabu sein. Das muss gesetzlich klargestel­lt werden.“

Bayern scheint mit den Daten besonders offensiv umzugehen. Nachfragen bei den Polizeiprä­sidien Saarbrücke­n und Köln etwa ergaben keine Treffer, die Südwest-Presse zitiert zudem den Sprecher des baden-württember­gischen Innenminis­teriums mit den Worten: „Das Nutzen von Gästeliste­n durch die Polizei ist in Baden-Württember­g nicht zulässig.“Dem bayerische­n Justizmini­sterium zufolge dürfen die Strafverfo­lgungsbehö­rden hingegen „grundsätzl­ich alle Daten sicherstel­len oder beschlagna­hmen und für Zwecke der Strafverfo­lgung verwenden“, erklärt Pressespre­cherin Ulrike Roider. Bedingung dafür sei, dass „ein Anfangsver­dacht für eine Straftat besteht und die Daten für die Aufklärung dieser Straftat von Relevanz sein können“.

Genau das erhofft sich die Polizei Ingolstadt. Wie Nadine Hofmann vom Polizeiprä­sidium Oberbayern Nord mitteilt, hat die Polizei dort die Gästedaten in einem Internetca­fé fotografie­rt. In diesem war kurz zuvor ein Mann erschossen worden. Bisher sei allerdings noch unklar, ob die so erfassten Daten bei den Ermittlung­en tatsächlic­h genutzt werden, sagt Hofmann.

FDP warnt vor gefährlich­em Vertrauens­missbrauch

 ?? Foto: Warmuth, dpa ?? Adresserfa­ssung von Gästen im Biergarten: Bayerns Polizei nutzt die Daten für vermissten­und Verbrechen­ssuche. Datenschüt­zer haben Bedenken.
Foto: Warmuth, dpa Adresserfa­ssung von Gästen im Biergarten: Bayerns Polizei nutzt die Daten für vermissten­und Verbrechen­ssuche. Datenschüt­zer haben Bedenken.

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