Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Extreme Höhen, extreme Tiefen

Kammerspie­le-Intendant Matthias Lilienthal blickt zurück auf seine fünf Münchner Jahre

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München Es war ein dramatisch­er Beginn – nun folgt ein leiser Abschied. Nach fünf Jahren endet die Intendanz von Matthias Lilienthal an den Münchner Kammerspie­len. An diesem Montag sind die letzten beiden Vorstellun­gen, die große Abschiedsp­arty mit 1000 Gästen fällt coronabedi­ngt aus. Viele bedauern Lilienthal­s Weggang – inzwischen. Denn das Münchner Publikum hat seine Liebe zu dem fantasievo­llen, mutigen und unangepass­ten Intendante­n erst spät entdeckt. Anfangs hagelte es heftige Kritik.

„München war eine super Zeit mit extrem vielen Höhen und Tiefen“, sagt der 60-Jährige im Gespräch. „Ich hätte auch nichts dagegen gehabt, wenn es von Anfang an gut gelaufen wäre.“Der einstige Leiter des Berliner Theaters Hebbel am Ufer kam im Herbst 2015 an die Kammerspie­le, in einer turbulente­n Zeit. Hunderttau­sende Menschen auf der Flucht waren nach Deutschlan­d geströmt. Viele Leute packten spontan an, um ihnen zu helfen; andere sprachen von einer Krise. Für Lilienthal keine Frage: Dieses Thema muss auf die Bühne. Wenige

Wochen nach seinem Antritt lud er zum „Open Border Kongress“, um für offene Grenzen zu werben, mit Vorträgen, Diskussion­en, Theaterund Filmbeiträ­gen sowie Workshops. Es gab ein Welcome-Café als Treff für Menschen mit und ohne Fluchterfa­hrung. Später erweiterte­n im Open-Border-Ensemble Schauspiel­er im Exil die Darsteller­riege.

Politische­s Theater war auch das Projekt „Shabbyshab­by Apartments“, mit der die Kammerspie­le auf den Wohnungsma­ngel aufmerksam machen wollten. Auch freie Gruppen holte Lilienthal auf die Bühne, etwa She She Pop oder Rimini Protokoll. Für viele Münchner war das ungewohnte­s Theater. Die Zuschauerz­ahlen gingen zurück, es gab lautstarke Kritik: zu wenig Sprechthea­ter, zu viel Diskurs und Experiment­elles.

Dramatisch wurde es im Juli 2018, als die CSU im Münchner Stadtrat den Kammerspie­len und dem Volkstheat­er die Teilnahme an einer Demonstrat­ion gegen die Flüchtling­spolitik ihrer Partei verbieten wollte. Mit rund 130 anderen Organisati­onen hatten die beiden städtische­n Häuser zur Demo „#ausgehetzt“aufgerufen. Die CSU sah deshalb die Neutralitä­t verletzt. „Dass wir das Intendanzb­üro zu einem Organisati­onsbüro für politische­n Protest umfunktion­iert haben, war für München neu“, sagte Lilienthal später. Kulturrefe­rent Hans-Georg Küppers von der SPD stärkte dem Intendante­n den Rücken: „Mehr denn je muss sich das Theater Fragen nach seiner Relevanz in einer sich rasant verändernd­en Welt stellen. Die Kammerspie­le reagieren darauf unter Lilienthal mit einer Politik der ästhetisch­en und gesellscha­ftlichen Öffnung.“Wenn die Kammerspie­le sich an zivilgesel­lschaftlic­hen Aktionen oder Demonstrat­ionen beteiligte­n, sei das „vom Wirkbereic­h der Kunstfreih­eit gedeckt“.

Doch während der Stadtrat noch hitzig diskutiert­e, stand schon fest, dass Lilienthal nicht länger als nötig in München bleiben wollte. Nach dem Beschluss der CSU-Fraktion, gegen eine Verlängeru­ng seines Intendante­nvertrages zu stimmen, zog er im März 2019 Konsequenz­en. „In München ist kein Rückhalt für die Verlängeru­ng meiner Arbeit gewährleis­tet“, sagte er und kündigte seinen Weggang für 2020 an. Mittlerwei­le bedauern viele, dass Lilienthal geht. Denn sein Theater wird durchaus auch gefeiert. Im Sommer 2019 kürten Kritiker die Kammerspie­le zum Theater des Jahres, Christoph Rüpings „Dionysos Stadt“wurde beste Inszenieru­ng, weitere Preise gab es für Schauspiel, Bühnenbild und Nachwuchss­chauspiel. Zudem lud das Berliner Theatertre­ffen Produktion­en der Kammerspie­le ein. Plötzlich entdeckten auch die Münchner das Theater, die Auslastung stieg. Vor allem junge Leute zog es häufiger in den schönen Jugendstil­bau samt Nebenbühne­n.

Die Stadt und die Kammerspie­le hätten „zu einer großen Liebesbezi­ehung gefunden“, formuliert­e es Lilienthal unlängst. „Diese Liebe kann jetzt unendlich sein, denn sie wird nicht mehr von irgendwelc­hen Realitäten getrübt.“Der 60-Jährige zieht nun in seine alte Heimat Berlin zurück, Barbara Mundel übernimmt seinen Posten. Was er aus München mitnimmt? „Dass das Theater mehr an extremen Tiefen und Höhen mit sich bringt, als man sich vorstellen kann. Und dass knapp hinter dem größten Tiefpunkt der kathartisc­he Umschlag in das Gegenteil lauert.“

Cordula Dieckmann, dpa

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Foto: Peter Kneffel, dpa Tschüss München: Kammerspie­le-Intendant Matthias Lilienthal.

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