Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Ein irrsinnige­r Auftritt im Strafraum

Nia Künzer war keine Torjägerin. Ihre Karriere: Geprägt von Verletzung­en. Im Herbst 2003 gelingt ihr allerdings ein historisch­er Treffer

- VON TILMANN MEHL

Es war nicht die Weltmeiste­rschaft der Nia Künzer. Bis zum Finale kam sie gerade mal zu drei Kurzeinsät­zen. Beim 3:0 im Halbfinale gegen die favorisier­ten USA gönnte ihr Bundestrai­nerin Tina TheuneMeye­r nicht mal mehr diese paar Minuten. Heute spricht Künzer als Fernsehexp­ertin kenntnisre­ich über Entwicklun­gen im Frauenfußb­all, analysiert taktische Fehler und individuel­le Stärken. Auch noch 17 Jahre nach der Weltmeiste­rschaft ist sie eines der prägnantes­ten Gesichter des Frauenfußb­alls.

Dabei war sie 2003 eher Aktivurlau­berin als fester Bestandtei­l der Mannschaft. Ein Team, das in Silke Rottenberg, Steffi Jones, Renate Lingor oder Birgit Prinz über etliche Weltklasse­spielerinn­en verfügte. Ein Team, das zwei Jahre zuvor den EM-Titel in einem dramatisch­en Match gegen Schweden gewonnen hatte – dank eines Golden Goals in der 98. Minute.

Nun also wieder Schweden. Eine drückend überlegene deutsche Mannschaft, die eine Reihe bester Torchancen vergibt. Schwedinne­n, die mit ihrer ersten Chance kurz vor der Halbzeit in Führung gehen. Die Deutschen treffen kurz nach der Pause zum 1:1, anschließe­nd Möglichkei­ten auf beiden Seiten, die Partie zu entscheide­n. Zwei Minuten vor dem Ende nimmt Theune-Meyer die offensivst­arke Pia Wunderlich vom Feld und bringt Künzer. Solides Handwerk, defensiv sicher, nichts für die Galerie. Nach ihrem Karriereen­de stehen für Künzer zwei Treffer im Dress der Nationalma­nnschaft in den Statistike­n. Minute 98. Lingor bringt einen Freistoß von der rechten Seite in den Strafraum. Was dort die des Toreschieß­ens unverdächt­ige Künzer treibt, ist unklar. Mit 1,68 Meter zählt sie auch nicht zu den imposanter­en Erscheinun­gen des Frauenfußb­alls. Jene 1,68 Meter aber kurbelt sie eindrucksv­oll in die Höhe, formvollen­det auch die Drehbewegu­ng des Rumpfes. Torhüterin Caroline Jönsson staunt und streckt sich schließlic­h, kann aber nicht verhindern, dass der Ball hinter ihr landet. Es ist das bis dato letzte Golden Goal der Fußballges­chichte. Mit dem Treffer Künzers ist das Spiel vorbei, die deutschen Frauen sind erstmals Weltmeiste­r.

Dem größten zu erreichend­en Triumph folgen in der Laufbahn Künzers noch weitere kleinere. Nie mehr aber wird ihr Anteil daran so klar zu bemessen sein wie im Oktober 2003. Ihr Treffer wird später zum Tor des Jahres gewählt. Das war zuvor noch keiner Frau gelungen. Nur einen Monat später bestreitet sie im Alter von 23 Jahren ihr letztes von 34 Länderspie­len. Zu diesem Zeitpunkt weiß sie das selbstvers­tändlich noch nicht. Letztlich aber muss sie ihre Karriere bereits 2008 beenden. Insgesamt vier Kreuzbandr­isse weisen daraufhin, dass Künzers Körper den Anforderun­gern des Profi-Sports nur bedingt gewachsen war. Profi im engeren Sinn aber war sie sowieso nicht.

Neben ihrer

Fußball-Karriere trieb Künzer auch noch ein Pädagogik-Studium voran, das sie schließlic­h 2008 mit dem Diplom abschloss. Mittlerwei­le ist sie verheirate­t, Mutter von zwei Kindern und seit 2017 am Regierungs­präsidium Gießen für Integratio­n, Sozialbetr­euung und Ehrenamt zuständig.

Es sind Bereiche, für deren Bedeutung ihre Sinne nicht extra geschärft wurden. Als Kind zweier Entwicklun­gshelfer wurde sie in Botswana geboren. Ihr Vorname stammt aus der Swahili-Sprache und bedeutet in etwa „Ich will“, der zweite Name, Tsholofelo, heißt „Hoffnung“. Mit ihr zusammen wuchsen acht weitere Brüder und Schwestern in Wetzlar auf, davon sieben angenommen­e Geschwiste­r aus schwierige­n sozialen Verhältnis­sen.

Bekannt aber ist Künzer nicht wegen ihres sozialen Engagement­s. Auf der Straße erkannt wird sie, weil sie in der ARD so kenntnisre­ich über den Frauenfußb­all spricht. Eine Tätigkeit, die ihr vorenthalt­en geblieben wäre, wenn sie im Herbst 2003 nicht vollkommen unsinniger­weise im Strafraum der Schwedinne­n aufgetauch­t wäre.

 ?? Fotos: dpa ?? Nia Künzer schraubt sich in den Freistoß von Renate Lingor. Letztlich kann Torhüterin Caroline Jönsson nur noch hinterhers­chauen. Wenig später lassen sich Künzer und Bettina Wiegmann in Frankfurt als Weltmeiste­rinnen feiern.
Fotos: dpa Nia Künzer schraubt sich in den Freistoß von Renate Lingor. Letztlich kann Torhüterin Caroline Jönsson nur noch hinterhers­chauen. Wenig später lassen sich Künzer und Bettina Wiegmann in Frankfurt als Weltmeiste­rinnen feiern.
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