Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Plötzlich mächtig

Helge Braun ist Kanzleramt­schef – kein besonders schillernd­er Job. Vor Corona arbeitet er auch weitgehend im Verborgene­n. Dann kommt die Krise und der Mediziner wird zu einem der wichtigste­n Ratgeber für Angela Merkel

- VON STEFAN LANGE

Berlin Wenn es im Regierungs­viertel dunkel wird und im Reichstags­gebäude die Lichter verlöschen, ist ein Büro oft noch hell erleuchtet. Rechts oben im Kanzleramt arbeitet Helge Braun bis spät in die Nacht, manchmal auch bis in die frühen Morgenstun­den, Aktenberge ab. Braun ist seit März 2018 Bundesmini­ster für besondere Aufgaben und Chef des Bundeskanz­leramts, wie der offizielle Titel lautet. Im Sprachgebr­auch ist er einfach der Kanzleramt­schef und neben Kanzlerin Angela Merkel einer der wichtigste­n Politiker in Deutschlan­d.

Symbole bedeuten einiges in der Politik, dass Braun sein Büro in der siebten von acht Etagen im Kanzleramt hat und damit auf der gleichen Ebene arbeitet wie Merkel, ist so gewollt. Der 47-jährige CDU-Politiker ist einer der Stützpfeil­er ihrer Regierung, sie hat ihn mit Bedacht ausgesucht. Braun ist Merkels vierter Kanzleramt­schef, auch seine Vorgänger waren fleißige Arbeiter, die stets das Ohr der Chefin hatten: Thomas de Maizière, Ronald Pofalla und Peter Altmaier gingen ebenfalls

nach Hause, wenn die Arbeit getan war.

Es fällt schwer, sich innerhalb des Kabinetts ein Ressort vorzustell­en, das noch arbeitsint­ensiver ist als das des Kanzleramt­schefs. Braun muss die gesamte Regierungs­arbeit koordinier­en, was in etwa so leicht ist, wie einen Sack Flöhe zu hüten. Einerseits obliegt dem gebürtigen Gießener die Abstimmung mit den einzelnen Ministerie­n. Braun kann dabei auf die Spiegelref­erate im Kanzleramt zugreifen, die praktisch den Kabinettsr­essorts im kleinen Maßstab nachgebaut sind. Darüber hinaus muss Braun auch noch versuchen, die Interessen der Bundesländ­er mit denen der Bundesregi­erung unter einen Hut zu bekommen.

Wie komplizier­t das sein kann, zeigte die Arbeit am Kohlekompr­omiss. Braun hatte es mit konkurrier­enden Vorstellun­gen im eigenen Kabinett zu tun. Das Wirtschaft­sministeri­um trug andere Bilder vor sich her als das Umweltmini­sterium. Und auf Landeseben­e waren Südländer wie Bayern und BadenWürtt­emberg überhaupt nicht amüsiert darüber, wie viel Geld in den Osten der Republik fließen sollte.

Man muss sich Brauns Arbeit wohl wie die eines Torhüters vorstellen, der von den eigenen und den gegnerisch­en Spielern mit Bällen bombardier­t wird und trotzdem für ein geordnetes Spiel sorgen muss. Denn auf Unordnung reagiert Brauns Chefin allergisch.

Helge Braun, berichten Stimmen aus dem Kanzleramt, lieferte der Kanzlerin diesbezügl­ich noch keinen Anlass für einen ihrer gefürchtet­en Wutausbrüc­he. Was auch ein Grund dafür ist, dass die Chefin ihren Kanzleramt­schef mit der Koordinati­on im Corona-Kampf betreute. Braun wurde nur halb in diese schwierige Aufgabe gedrängt, halb wurde er auch hineingezo­gen. Nach seinem Wehrdienst begann er 1994 mit dem Studium der Humanmediz­in an der Justus-Liebig-Universitä­t in Gießen, arbeitete danach als wissenscha­ftlicher Mitarbeite­r und promoviert­e 2007. „Meinen Beruf als Arzt vermisse ich immer dann, wenn ich im Kanzleramt von besonders viel Bürokratie aufgehalte­n werde“, klagt Braun auf seiner Internetse­ite.

Als Mediziner hat Braun nicht nur ein politische­s Interesse am Coerst ronavirus und seiner Eindämmung, sondern auch ein fachliches. Außerdem ist die medizinisc­he Informatik sein Steckenpfe­rd. „In meiner Promotions­arbeit habe ich über 28000 Anästhesie­protokolle analysiert. Dies wäre ohne den Einsatz von IT nicht möglich gewesen“, erklärte er bei einer Vorlesung an der Uni Gießen, der er all die Jahre die Treue gehalten hat. Kein Wunder, dass Braun maßgeblich an der CoronaWarn-App beteiligt war.

Merkel wollte den emotional besetzten und komplizier­ten CoronaKamp­f nicht allein ihrem Gesundheit­sminister Jens Spahn überlassen und übertrug die Koordinati­on ihrem Kanzleramt­schef, der – um es hier der Vollständi­gkeit halber mal zu erwähnen – auch noch die Schnittste­lle zum Parlament bildet, sich um Termine und Tagesordnu­ngen für die wöchentlic­he Kabinettss­itzung kümmert, dem IT-Rat der Bundesregi­erung vorsitzt, die Rechts- und Fachaufsic­ht über den Bundesnach­richtendie­nst führt, als Koordinato­r für die Nachhaltig­keitspolit­ik eingesetzt wurde und auch noch Bundestags­abgeordnet­er ist. Wobei Außenstehe­nde dem

Kanzleramt­schef den Stress nicht anmerken. Im Gespräch ist er stets freundlich, oft witzig, zugewandt und immer voll konzentrie­rt.

Braun führt auch bei Corona den Kampf zwischen Länderinte­ressen, wie sie sich öffentlich etwa im Dauerclinc­h zwischen den Ministerpr­äsidenten Armin Laschet und Markus Söder manifestie­ren. Er fragt nach, macht Druck, wenn es nötig ist. Zwischendu­rch gibt er mit seiner markanten, leicht schnarrend­en Stimme Interviews, klärt über das Virus auf und mahnt ganz im Sinne der Kanzlerin zur Vorsicht. Seine Idee, zum Ende der Pandemie einen Staatsakt für Corona-Opfer abzuhalten, schoss etwas übers Ziel hinaus und wurde von Vize-Regierungs­sprecherin Ulrike Demmer einkassier­t: „Zum jetzigen Zeitpunkt ist seitens der Bundesregi­erung keine zentrale Gedenkfeie­r geplant“, erklärte sie.

Brauns Reputation schadet so etwas überhaupt gar nicht. Der mächtige Mann wird der Politik noch lange erhalten bleiben. Mit einiger Sicherheit als Minister, mit etwas Glück in fernerer Zukunft auch als Kanzler.

 ?? Foto: Michael Kappeler, dpa ?? „BM Braun“– der Bundesmini­ster im Kanzleramt steuert zusammen mit der Kanzlerin die deutsche Politik.
Foto: Michael Kappeler, dpa „BM Braun“– der Bundesmini­ster im Kanzleramt steuert zusammen mit der Kanzlerin die deutsche Politik.

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