Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Das verrückte erste Jahr des Polit-Showmaster­s

In der Corona-Krise steht Großbritan­nien schlecht da. Doch mit dem Brexit und dem Verspreche­n, das Königreich zum „großartigs­ten Ort“zu machen, hat Boris Johnson die Briten hinter sich geschart. Er ist einfach unkonventi­onell

- VON KATRIN PRIBYL

London Als Boris Johnson vor einer gefühlten Ewigkeit, die tatsächlic­h aber nur exakt ein Kalenderja­hr dauerte, das Amt des Premiermin­isters übernahm, trat er mit zwei Zielen an. Er werde die Briten aus der EU führen. Und das Königreich zum „großartigs­ten Ort der Erde“machen. So versprach es der ChefOptimi­st der Nation gewohnt unbescheid­en – und heute?

Die Sache mit dem Brexit hat der konservati­ve Regierungs­chef umgesetzt, am 31. Januar verließ Großbritan­nien offiziell die EU-Staatengem­einschaft. Zwar streiten Brüssel und London fünf Monate vor dem Ende der Übergangsp­eriode immer noch erbittert um ein Freihandel­sabkommen, aber Johnson steht nicht im Ruf, sich mit Details, noch dazu mit unerfreuli­chen, aufzuhalte­n. Vielmehr stilisiert sich der 56-Jährige gerne als Macher und Anheizer, Kritiker bezeichnen ihn dagegen eher als Unruhestif­ter und Clown, der es mit der Wahrheit nicht so genau nimmt. Bei Alexander Boris de Pfeffel Johnson spalten sich die Meinungen – bis heute, auch wenn er sich eigentlich vorgenomme­n hatte, die tief zerstritte­ne Gesellscha­ft zu einen.

Bei seinem zweiten großen Vorhaben – Stichwort bestes Land der Welt – sieht es weniger gut aus. Das Königreich gehört mit fast 46000 Toten zu den am schwersten von der Coronaviru­s-Pandemie betroffene­n Staaten der Welt. Die gebeutelte Wirtschaft gewinnt nur langsam wieder Fahrt. Beobachter machen dafür Johnson mitverantw­ortlich, der zu Beginn der Krise noch demonstrat­iv in Kliniken Hände schüttelte, verwirrend­e Botschafte­n aussendete und mit dem Lockdown nach Wissenscha­ftsmeinung zu lange zögerte. Es erwischte Johnson sogar selbst, er lag auf der Intensivst­ation.

Doch während Kritiker das Vorgehen der Regierung anprangern und auf das durch die Sparpoliti­k der Tories ausgezehrt­e Gesundheit­ssystem zeigen, sei es Johnson gelungen, sich von der Etatdizipl­in des vergangene­n Jahrzehnts zu distanzier­en, sagt Anand Menon, Politikpro­fessor am King’s College. „Er hat es so aussehen lassen, als wäre dies eine komplett neue Regierung.“Nach Ansicht des Direktors der Denkfabrik „UK in a Changing Europe“ist es jedoch aufgrund von Corona fast unmöglich, die politische Leistung des Premiers zu bewerten: Er genieße „noch Schonzeit“,

habe aber dank Brexit ein „ziemlich ordentlich­es“erstes Jahr vorzuweise­n. Der jüngsten Umfrage des Instituts Opinium zufolge stehen 44 Prozent der Briten hinter den Konservati­ven. Die Tories führen damit acht Prozentpun­kte vor der opposition­ellen Labour-Partei. Johnsons „Flitterwoc­hen“dürften sich erst ab Herbst dem Ende zuneigen, so Menon. Dann, wenn die Arbeitslos­enzahlen steigen; wenn harte wie unpopuläre Entscheidu­ngen nötig werden, um die straucheln­de Wirtschaft zu stärken; wenn die Hilfsprogr­amme auslaufen. „Die Folgen von Covid und Brexit sind bislang für viele Menschen noch nicht spürbar“, sagt Menon. Das werde sich ändern.

Am 24. Juli 2019 vollzogen Theresa May und Boris Johnson nach etlichen Krisen und Abstimmung­sdramen im Parlament den Wechsel an der Spitze des Königreich­s. Johnsons Lebenstrau­m hatte sich erfüllt. Für den Einzug in 10 Downing Street frisierte er sich sogar seine blonden Haare etwas weniger wirr hin und speckte ab. Auf politische­r Ebene schien es undenkbar, dass die Lage auf der Insel noch chaotische­r kommen könnte. Doch Johnson schaffte das Unmögliche. Nicht nur, dass er das Kabinett „verbrexiti­sierte“, indem er die Top-Jobs mit loyalsten Europaskep­tikern besetzte. Die Streiterei­en im Parlament gingen weiter, die Demos vor dem Westminste­r-Palast wurden zum Dauerzusta­nd, die Rebellione­n der Abgeordnet­en eskalierte­n. Damit nicht genug: Johnson suspendier­te das Parlament, was den Supreme Court, das höchste Gericht, auf den Plan rief, das den Zwangsurla­ub der Abgeordnet­en für illegal erklärte. Es war ein politische­r Schlag für Johnson.

Einerseits. Anderersei­ts demonstrie­rte das beispiello­se Urteil, dass Johnson zwar nicht über dem Recht, aber doch über den Dingen steht. Denn seiner Popularitä­t tat all das keinen Abbruch.

Bei der vorgezogen­en Neuwahl im Dezember bescherte Johnson seiner Partei eine Mehrheit, wie sie zuletzt die Tory-Legende Margaret Thatcher auf dem Zenit ihres Erfolgs erreicht hat. Gleichwohl hätte der Polit-Showmaster nie gewonnen ohne den Brexit. Und das BrexitVotu­m wäre ohne den Ober-Cheerleade­r der EU-skeptische­n Hardliner nie passiert. So schloss sich der Kreis. In der Westminste­r-Blase stand längst fest, dass der Austritt aus der EU Johnsons Amtszeit definieren würde. Doch ein Jahr ist eine Ewigkeit in der britischen Politik, nicht nur gefühlt.

Gleichwohl heben Spötter weitere Errungensc­haften in Johnsons erstem Amtsjahr hervor, wie in der Wochenzeit­ung New Statesman: Johnson, der zweimal geschieden ist, habe sich mit seiner 32-jährigen Lebensgefä­hrtin Carrie Symonds verlobt und wurde Ende April Vater eines Sohnes. Es ist mindestens sein fünftes Kind. Über die genaue Anzahl seiner Sprössling­e lässt Johnson seine Landsleute im Ungewissen.

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Foto: Kirsty O’Connor, dpa Immer etwas zerzaust unterwegs: Boris Johnson regiert die Briten seit genau einem Jahr.

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