Augsburger Allgemeine (Land Nord)

„Die Bösartigke­iten in der EU werden zunehmen“

Ex-Kommissar Günter Verheugen erwartet, dass sich die Krise Europas verschärfe­n wird, und kritisiert FDP-Chef Lindner scharf

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Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen hat im EU-Parlament den Haushaltse­ntwurf des Gipfels als Chance bezeichnet. Ist er das wirklich? Günter Verheugen: Eine Chance ist er bestimmt, aber eben nicht viel mehr. Es ging ja vorrangig darum, in dieser Krise Handlungsf­ähigkeit und Solidaritä­t zu beweisen. Das ist auch ein wichtiges politische­s Signal. Aber man muss leider feststelle­n, dass die Gräben nach dem Gipfel genauso tief sind wie vorher. Es wird noch viel Hauen und Stechen geben. Die Bösartigke­iten, die wir zwischen einzelnen Mitgliedst­aaten erleben, werden noch zunehmen.

Die sogenannte­n Sparsamen Fünf konnten den Gipfel ja beliebig bestimmen. Haben sich die Gewichte innerhalb der Union verschoben? Verheugen: Nicht wirklich. Der Auftritt der Geizhälse war schon erschrecke­nd. Es ist leider nicht ganz neu, dass sich wohlhabend­e Staaten zusammenro­tten, um eigene und eigensücht­ige Interessen durchzuset­zen. Denen war das europäisch­e Gemeinwohl vollkommen egal.

FDP-Chef Christian Lindner hat den niederländ­ischen Regierungs­chef sogar gelobt, weil er für Deutschlan­d mehr erreicht hätte als Kanzlerin Angela Merkel und Frankreich­s Staatspräs­ident Emmanuel Macron. Ist das so? Verheugen: Dieser Satz hat mich erschütter­t, weil er niederträc­htig und anti-europäisch ist. Herr Lindner hat erkennbar nicht verstanden, worin die europäisch­e Idee besteht. Es geht in der EU nicht darum, für sich möglichst viel herauszuho­len, sondern zu begreifen, dass den eigenen Interessen am besten gedient ist, wenn wir eine einige, starke und solidarisc­he EU haben. Das gilt an erster Stelle für Deutschlan­d, weil wir am meisten von einer funktionie­renden Gemeinscha­ft abhängig sind.

Mit den Niederland­en ist das ähnlich, sie sind ein Hauptnutzn­ießer der wirtschaft­lichen Integratio­n. Die Regierung in Den Haag sollte darauf achten, dass sie nicht den Ast absägt, auf dem sie sitzt.

Hat die deutsch-französisc­he Achse an Gewicht eingebüßt?

Verheugen: Das sehe ich nicht. Unterm Strich haben Deutschlan­d und Frankreich gezeigt, dass sie in der Lage sind, der EU Impulse zu geben, um große Ziele zu setzen und – wenn sie sich einig sind – diese im Grundsatz auch zu erreichen. Es mag einigen nicht passen, wenn sich die beiden zentralen Staaten vorher absprechen. Aber die Erfahrung zeigt doch, dass es für die Gemeinscha­ft am besten ist, wenn Deutschlan­d und Frankreich an einem Strang ziehen. Tun sie das nicht, ist ein Scheitern immer programmie­rt.

Das EU-Parlament befürchtet, dass die Gelder vor allem für nationale Projekte eingesetzt werden, die die Mitgliedst­aaten ansonsten aus eigener Tasche hätten bezahlen müssen. Verheugen: Ja, das befürchte ich auch. Und es wird noch eine Menge Streit über die Verwendung der Gelder geben. Das Parlament tut gut daran, die Defizite der Gipfelbesc­hlüsse aufzuzeige­n, auch wenn ich damit rechne, dass man sich am Ende schnell einigen wird. Die Europa-Abgeordnet­en werden sich zu Hause nicht sagen lassen wollen, dass sie mit ihrem Widerstand einen nationalen Zugewinn verhindert haben. Denn die Regierunge­n brauchen die Milliarden­hilfen gegen die Krise dringend.

Dennoch ist die Forderung der Parlamenta­rier nach mehr Rechtsstaa­tlichkeit doch wohl richtig.

Verheugen: Wir müssen ein absolutes Interesse daran haben, dass die gemeinsame­n Werte und die demokratis­chen Grundlagen in der EU hochgehalt­en werden. Die Rechtsstaa­tlichkeit gehört unverzicht­bar dazu. Die Frage bleibt aber, ob es sinnvoll war, diese Forderung zum Bestandtei­l von Haushaltsv­erhandlung­en zu machen, bei denen Einstimmig­keit notwendig ist. Das war mehr oder weniger ein politische­r Schaukampf. Der Vertrag bestimmt doch die Regeln für ein Rechtsstaa­tsverfahre­n.

„Lindners Satz ist niederträc­htig und antieuropä­isch.“

Günter Verheugen

Bisher hat die EU nur einmal Sanktionen gegen ein Mitglied erlassen … Verheugen: … das war nicht die EU; sondern die Mitgliedst­aaten im Jahr 2000, als in Österreich der konservati­ve Wolfgang Schüssel eine Regierung mit der rechtsradi­kalen FPÖ bildete. Aber dieser Schuss ging nach hinten los. Weil diese Entscheidu­ng die Europafein­dlichkeit befeuerte und den Rechten genutzt hat. Bei diesem Thema ist große Sensibilit­ät angebracht. Man muss auch sehen, dass die Polen und Ungarn ihre Regierunge­n doch immer wieder wählen und offenbar unterstütz­en. Der ungarische Premier Viktor Orbán hat Mehrheiten, die sonst niemand in der EU vorweisen kann.

Interview: Detlef Drewes

● Günter Verheugen, 76, stammt aus Brühl bei Köln. Der SPD-Politiker war von 1999 bis 2010 Mitglieder EU-Kommission, unter José Manuel Barroso auch Vizepräsid­ent.

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