Augsburger Allgemeine (Land Nord)

„Ich habe es nicht geschafft, die Welt zu warnen“

Corona kann von Menschen übertragen werden, die keine Symptome zeigen. Heute wirkt diese Wahrheit trivial. Noch Ende Januar wurde hart um sie gerungen. Die Ärztin Camilla Rothe war die Erste, die warnte – doch niemand hörte hin

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München Camilla Rothe machte eine simple Beobachtun­g. Die Tropenmedi­zinerin des Klinikums der Ludwig-Maximilian­s-Universitä­t untersucht­e den ersten Covid-19Fall in Deutschlan­d. Ein Mitarbeite­r der Firma Webasto aus München hatte sich bei seiner chinesisch­en Kollegin angesteckt – obwohl diese keine Symptome hatte. Sie war im Januar eine der ersten stillen Überträger­innen des Virus in Deutschlan­d. Rothe machte den Fall öffentlich. Doch die Gesundheit­sbehörden hörten weg. Statt weitreiche­nde Maßnahmen einzuführe­n wie Abstandsre­gelungen und Maskenpfli­cht, wurde Rothes Forschung angegriffe­n. Die Experten verloren sich in einer akademisch­en Debatte, die um die Frage kreiste: Was ist ein Symptom und was nicht? Etwa 20 Tage später begann in Norditalie­n das Sterben …

Frau Rothe, wären weniger Menschen gestorben, wenn Sie im Januar mit Ihrer Botschaft durchgedru­ngen wären? Camilla Rothe: Vielleicht. Aber ich weiß nicht, ob die Menschen zu diesem Zeitpunkt schon bereit gewesen wären für all die Maßnahmen, die wir heute haben. Schließlic­h heißt symptomlos­e Übertragun­g, dass wir die gesamte Bevölkerun­g als potenziell­e Überträger hätten sehen müssen. Mit der Maskenpfli­cht und den Abstandsre­geln machen wir das heute. Vielleicht brauchte es erst die grausamen Bilder aus Italien, damit die Menschen bereit für Einschränk­ungen waren. Aber ja, zur Wahrheit gehört auch: Man hätte die richtigen Schlüsse ziehen können. Stattdesse­n bekam meine wissenscha­ftliche Beobachtun­g Gegenwind. Teile der Fachwelt nannten meine Beobachtun­g fehlerhaft. Ich habe HassTweets bekommen. Und wenn sich dann auch noch die Weltgesund­heitsorgan­isation gegen dich ausspricht, dann schüchtert das schon ein.

Gehen wir zurück zu dem Zeitpunkt, an dem Ihre Geschichte ihren Anfang nahm. Wie landete der Fall auf Ihrem Tisch?

Rothe: Das war am Montag, 27. Januar. Mein Telefon hat geklingelt und es meldete sich ein Mitarbeite­r einer Firma Webasto. Ich leite die Ambulanz des Tropeninst­ituts in München. Der Mitarbeite­r erzählte, dass vor kurzem eine Kollegin aus der China-Dependance der Firma in München war. Sie ist nach einigen Tagen wieder nach China geflogen. Dort hatte sie Symptome entwiDer Corona-Test am Wochenende nach ihrer Rückkehr war positiv. Der Mitarbeite­r am Telefon erzählte, er habe am Wochenende grippale Symptome gehabt.

Was passierte dann?

Rothe: Der Mann ist zu uns gekommen. Ich hatte zum Glück die richtige Schutzklei­dung an, habe den Abstrich gemacht und dann bis abends gewartet. Dann kam um 19 Uhr der Anruf von der Mikrobiolo­gie. Der Test war positiv. Im Tropeninst­itut haben wir erst einmal geschluckt.

Sie haben ihn nach der Chinesin gefragt?

Rothe: Klar, ich war neugierig. Ich wollte wissen: Hatte sie Erkältungs­symptome? Hatte sie einen Schnupfen oder Husten? War sie heiser? Hatte sie glasige Augen? Die Antwort des Mannes war klar und lautete immer: Nein!

Die Chinesin war unauffälli­g, symptomlos?

Rothe: Ich will jetzt noch einmal klar sagen, was meine Botschaft sein sollte: Es ging damals gar nicht darum, was die Chinesin subjektiv gefühlt hat. Mir hat es gereicht zu sehen, sie trotz der Infektion noch konnte. Und zwar einen Langstreck­enflug machen, von morgens bis abends Business-Meetings abhalten, augenschei­nlich unbeeinträ­chtigt und insbesonde­re ohne Anzeichen einer Atemwegsin­fektion, die die Kollegen hätte warnen können.

Wann haben Sie den Entschluss gefasst, Alarm zu schlagen?

Rothe: Dienstag, am Abend. Einen Tag, nachdem der erste WebastoMit­arbeiter und dann drei weitere aus der Firma positiv getestet wurden. Ich habe eine Mail an meine Kollegen aus der Fachwelt geschriebe­n. Die mussten gewarnt werden. Denn für das medizinisc­he Personal ist es wichtig zu wissen, wo die Gefahren lauern. Ich habe das Paper geschriebe­n, es war recht banal. Es war eine reine klinische Beobachtun­g.

Waren Ihnen selbst die Folgen klar, die man aus Ihrem Paper hätte ableiten müssen?

Rothe: Ich wusste damals, dass es eine unbequeme Neuigkeit war. Für alle, die für den Schutz der Bevölkerun­g zuständig waren. Denn wenn Covid-19 ohne Symptome ansteckelt. ckend sein kann, dann kann ich keine Falldefini­tion machen und davon ableiten, welche Maßnahmen ich umsetze. Zum Beispiel kann ich nicht nur die Leute testen, die husten. Wenn alle scheinbar Gesunden auch krank sein können, dann muss ich radikalere Maßnahmen auflegen.

Wie waren die Reaktionen auf Ihr Paper?

Rothe: Fünf Tage später hatten wir einen deutschen Wissenscha­ftsjournal­isten am Telefon. Der hat uns relativ aggressiv in die Enge getrieben und sagte, andere hätten mit der Chinesin gesprochen, die Frau habe Symptome in München gehabt. Dieser Journalist hat dann einen Artikel in der renommiert­en Zeitschrif­t Science geschriebe­n. Da stand dann in dem Text über meinem Paper das Wort „flawed“, also fehlerhaft. Das war für mich ein Schlag in die Magengrube.

Haben sich Politiker gemeldet? Rothe: Ich hatte eigentlich erwartet, dass mal jemand anruft. Doch weder die Politiker noch das Robert-KochInstit­ut als Gesundheit­sbehörde haben angerufen. Wir arbeiten mit dewas nen in der Regel zusammen. So groß ist Deutschlan­d nicht. Man kann doch mit uns sprechen, wir sind doch keine Monster. Die Behörden hätten wenigstens sagen können, der Ausbruch war zu klein, um daraus Maßnahmen abzuleiten.

War es genug, nur ein Paper zu veröffentl­ichen? Hätten Sie nicht stärker warnen müssen? Selbst zum Telefonhör­er greifen?

Rothe: Ich bin enttäuscht, dass ich es nicht geschafft habe, die Welt zu warnen. Vielleicht habe ich auch versagt. Ich habe die Geschichte testweise immer Freunden erklärt, die keine Mediziner sind. Die haben die Brisanz sofort kapiert. Die haben das verstanden, aber die Welt hat es nicht verstanden. Ich habe mich häufig gefragt, wieso das meine Freunde kapieren, aber nicht die, die dafür bezahlt werden.

Müssen Ärzte grundsätzl­ich schriller Alarm schlagen, um Gehör zu finden? Rothe: Wir sind als Ärzte vermutlich noch immer zu konservati­v. Wir kommunizie­ren über unsere Fachzeitsc­hriften. Über Twitter Informatio­nen rauszuhaue­n, ist traditione­llerweise nicht unser Weg. Aber die Neuen Medien und die Presse sind schneller und stärker. Aber ich kann mich auch nicht den ganzen Tag um Public Relations kümmern. Ja, aber vielleicht muss man an die Öffentlich­keit gehen. Auch auf die Gefahr hin, dass man kleingetwi­ttert wird.

Wie bewerten Sie die Rolle der Medien in diesem Fall?

Rothe: Die haben sich für vieles interessie­rt. Für das Zelt vor unserem Gebäude, für die Corona-Teststatio­n. Ich wurde viel interviewt und habe die Geschichte auch immer erzählt. Bis auf einen Nebensatz im Stern hat es aber niemand aufgegriff­en. Es musste erst ein zweifach Pulitzerpr­eis-gekrönter Journalist der New York Times auftauchen. Der hat das dann ausgegrabe­n, und danach sind die Meinungen umgeschwen­kt. Plötzlich haben es alle verstanden, es tat dann allen leid. Vorher ist meine Beobachtun­g gegen mich verwendet worden, und nun sind alle meiner Meinung.

Interview: Tom Kroll

Camilla Rothe leitet die Ambulanz des Tropeninst­ituts des Universitä­tsklinikum­s der Ludwig-Maximilian­s-Universitä­t.

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Foto: Lino Mirgeler, dpa Ende Januar geriet der Autozulief­erer Webasto mit Sitz in Gauting (Landkreis Starnberg) in die Schlagzeil­en: Ein Mitarbeite­r infizierte sich mit dem Coronaviru­s – es war der erste bekannt gewordene Corona-Fall Deutschlan­ds.
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