Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Vorfahrt für Radfahrer
Weil in der Krise mehr Menschen auf das Fahrrad umsteigen, planen einige Städte bereits um: Mehr Platz für Räder, weniger Raum für Autos. Ist das ein Modell für die Zukunft?
Augsburg Das Fahrrad erlebt durch die Corona-Pandemie eine Hochphase. Weil ein Teil der Bevölkerung auf Bus und Bahn verzichtet oder zu Hause arbeitet, radeln in vielen Städten mehr Menschen als je zuvor. Auch die Nachfrage nach Rädern ist gestiegen. Nach Angaben des Zweirad-Industrie-Verbandes, kurz ZIV, war der Mai ein Rekordmonat. Manche Städte wie München reagierten schnell auf dieses gestiegene Interesse: In der bayerischen Landeshauptstadt wurden sogenannte Pop-up-Radwege eingeführt: Die Stadt verkleinerte die meist deutlich leereren Autospuren, um Radfahrern mehr Platz zu geben.
Mehr Platz für Fahrräder, weniger Raum für Autos – ist das ein Modell für die Zukunft? Die Deutschen sind in dieser Frage gespalten. Das ist das Ergebnis einer repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Civey im Auftrag unserer Redaktion. Während 42 Prozent der Befragten es für richtig halten, Fahrrädern mehr Platz einzuräumen, sind 44,1 Prozent dagegen. Der Rest (13,9 Prozent) ist in der Frage unentschieden.
Auffällig ist, dass die Idee in Städten deutlich mehr Zustimmung findet als in ländlichen Regionen. Je höher die Bevölkerungsdichte, desto eher befürworten die Umfrageteilnehmer den Vorschlag, in Innenstädten mehr Platz für Radfahrer zu schaffen. In ländlichen Regionen findet jeweils nur rund jeder Dritte die Idee richtig, rund die Hälfte lehnt den Vorschlag ab. In dicht besiedelten Gegenden ist dieses Verhältnis nahezu umgekehrt.
Das mag auch daran liegen, dass mit Fußgängern, Radlern und Autofahrern im Verkehr drei Gruppen aufeinandertreffen, die ganz unterschiedliche Bedürfnisse haben. Aktuell, sagt etwa Tanja Terruli, seien die Straßen vor allem auf Autofahrer ausgelegt. Terruli leitet für den ökologischen Verkehrsclub Deutschland, kurz VCD, das Projekt „Straßen für Menschen“, das sich etwa damit befasst, wie gerecht der Platz in der Stadt zwischen diesen Gruppen verteilt ist. Seit den 50er Jahren würden Städte so entworfen, dass
Autos möglichst schnell hindurchkommen, erläutert die Expertin. Um vom Wohnviertel zum Beispiel zur Arbeit zu gelangen, seien große Schneisen entstanden, „die bequem mit dem Auto zu durchqueren waren“. Die Folge: Autos nehmen auch heute den meisten Platz ein.
Die Expertin macht das am Beispiel Berlins deutlich: Etwa ein Drittel der Wege werden dort mit dem Auto zurückgelegt. Doch Straßen und Parkplätze nehmen fast zwei Drittel der Fläche ein. Zum Vergleich: „13 Prozent der Wege werden in Berlin mit dem Fahrrad zurückgelegt. Doch das Fahrrad hat nur drei Prozent Anteil an den Verkehrsflächen“, sagt sie.
Das führt zu einem Wettstreit um die verfügbare Fläche, den auch der ADAC beobachtet hat. In einer Umfrage, die der Automobilclub im Frühjahr veröffentlicht hat, gaben 80 Prozent der Teilnehmer an, dass im Verkehr nicht auf andere Rücksicht genommen werde. Das Interessante: Jeder sieht die Schuld beim anderen. Fahrradfahrer schimpfen über Fußgänger und Autofahrer, diese regen sich über Radler auf.
Was also tun? „Damit sich alle Verkehrsteilnehmer sicher fühlen, braucht es mehr, breitere und komfortablere Verkehrswege für Fußgänger und Radfahrer. Dafür muss der motorisierte Individualverkehr weichen“, sagt Fachfrau Terruli. Und ihre Chefin Carolin Ritter, Bundesgeschäftsführerin des Verkehrsclubs Deutschland, fügt an: „Die Menschen dürfen aber nicht das Gefühl haben, dass man ihnen etwas wegnimmt. Stattdessen muss man ihnen klarmachen, was sie gewinnen.“Sie meint: Wenn auf den Straßen weniger Autos unterwegs sind und parken, ist mehr Platz für andere Dinge, etwa zum Spielen oder um draußen zu sitzen.
Doch das umzusetzen ist gar nicht so leicht, denn auch das Verkehrsrecht – auf dem die Stadtplanung fußt – bevorzuge Autos, sagt Ritter. „Das wird noch ein paar Jahre dauern. Aber gerade merken wir, dass die richtige Stimmung dafür da ist.“
Zumindest für Bayern scheint sie mit ihrer Einschätzung richtigzuliegen: Der Freistaat will deutlich fahrradfreundlicher werden. Mehr dazu lesen Sie auf Bayern.