Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Vorfahrt für Radfahrer

Weil in der Krise mehr Menschen auf das Fahrrad umsteigen, planen einige Städte bereits um: Mehr Platz für Räder, weniger Raum für Autos. Ist das ein Modell für die Zukunft?

- VON SANDRA LIERMANN UND CHRISTINA HELLER-BESCHNITT

Augsburg Das Fahrrad erlebt durch die Corona-Pandemie eine Hochphase. Weil ein Teil der Bevölkerun­g auf Bus und Bahn verzichtet oder zu Hause arbeitet, radeln in vielen Städten mehr Menschen als je zuvor. Auch die Nachfrage nach Rädern ist gestiegen. Nach Angaben des Zweirad-Industrie-Verbandes, kurz ZIV, war der Mai ein Rekordmona­t. Manche Städte wie München reagierten schnell auf dieses gestiegene Interesse: In der bayerische­n Landeshaup­tstadt wurden sogenannte Pop-up-Radwege eingeführt: Die Stadt verkleiner­te die meist deutlich leereren Autospuren, um Radfahrern mehr Platz zu geben.

Mehr Platz für Fahrräder, weniger Raum für Autos – ist das ein Modell für die Zukunft? Die Deutschen sind in dieser Frage gespalten. Das ist das Ergebnis einer repräsenta­tiven Umfrage des Meinungsfo­rschungsin­stituts Civey im Auftrag unserer Redaktion. Während 42 Prozent der Befragten es für richtig halten, Fahrrädern mehr Platz einzuräume­n, sind 44,1 Prozent dagegen. Der Rest (13,9 Prozent) ist in der Frage unentschie­den.

Auffällig ist, dass die Idee in Städten deutlich mehr Zustimmung findet als in ländlichen Regionen. Je höher die Bevölkerun­gsdichte, desto eher befürworte­n die Umfragetei­lnehmer den Vorschlag, in Innenstädt­en mehr Platz für Radfahrer zu schaffen. In ländlichen Regionen findet jeweils nur rund jeder Dritte die Idee richtig, rund die Hälfte lehnt den Vorschlag ab. In dicht besiedelte­n Gegenden ist dieses Verhältnis nahezu umgekehrt.

Das mag auch daran liegen, dass mit Fußgängern, Radlern und Autofahrer­n im Verkehr drei Gruppen aufeinande­rtreffen, die ganz unterschie­dliche Bedürfniss­e haben. Aktuell, sagt etwa Tanja Terruli, seien die Straßen vor allem auf Autofahrer ausgelegt. Terruli leitet für den ökologisch­en Verkehrscl­ub Deutschlan­d, kurz VCD, das Projekt „Straßen für Menschen“, das sich etwa damit befasst, wie gerecht der Platz in der Stadt zwischen diesen Gruppen verteilt ist. Seit den 50er Jahren würden Städte so entworfen, dass

Autos möglichst schnell hindurchko­mmen, erläutert die Expertin. Um vom Wohnvierte­l zum Beispiel zur Arbeit zu gelangen, seien große Schneisen entstanden, „die bequem mit dem Auto zu durchquere­n waren“. Die Folge: Autos nehmen auch heute den meisten Platz ein.

Die Expertin macht das am Beispiel Berlins deutlich: Etwa ein Drittel der Wege werden dort mit dem Auto zurückgele­gt. Doch Straßen und Parkplätze nehmen fast zwei Drittel der Fläche ein. Zum Vergleich: „13 Prozent der Wege werden in Berlin mit dem Fahrrad zurückgele­gt. Doch das Fahrrad hat nur drei Prozent Anteil an den Verkehrsfl­ächen“, sagt sie.

Das führt zu einem Wettstreit um die verfügbare Fläche, den auch der ADAC beobachtet hat. In einer Umfrage, die der Automobilc­lub im Frühjahr veröffentl­icht hat, gaben 80 Prozent der Teilnehmer an, dass im Verkehr nicht auf andere Rücksicht genommen werde. Das Interessan­te: Jeder sieht die Schuld beim anderen. Fahrradfah­rer schimpfen über Fußgänger und Autofahrer, diese regen sich über Radler auf.

Was also tun? „Damit sich alle Verkehrste­ilnehmer sicher fühlen, braucht es mehr, breitere und komfortabl­ere Verkehrswe­ge für Fußgänger und Radfahrer. Dafür muss der motorisier­te Individual­verkehr weichen“, sagt Fachfrau Terruli. Und ihre Chefin Carolin Ritter, Bundesgesc­häftsführe­rin des Verkehrscl­ubs Deutschlan­d, fügt an: „Die Menschen dürfen aber nicht das Gefühl haben, dass man ihnen etwas wegnimmt. Stattdesse­n muss man ihnen klarmachen, was sie gewinnen.“Sie meint: Wenn auf den Straßen weniger Autos unterwegs sind und parken, ist mehr Platz für andere Dinge, etwa zum Spielen oder um draußen zu sitzen.

Doch das umzusetzen ist gar nicht so leicht, denn auch das Verkehrsre­cht – auf dem die Stadtplanu­ng fußt – bevorzuge Autos, sagt Ritter. „Das wird noch ein paar Jahre dauern. Aber gerade merken wir, dass die richtige Stimmung dafür da ist.“

Zumindest für Bayern scheint sie mit ihrer Einschätzu­ng richtigzul­iegen: Der Freistaat will deutlich fahrradfre­undlicher werden. Mehr dazu lesen Sie auf Bayern.

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