Augsburger Allgemeine (Land Nord)

„Ich muss nicht verreisen, um mich zu erholen“

Die Ferien stehen in Bayern vor der Tür. Auf eine Reise verzichten aber viele. Aus Angst vor Corona. Oder weil sie Geldsorgen haben. Warum ein Freizeitfo­rscher sogar dafür plädiert, endlich Urlaub daheim zu machen

- Muße, was für ein schönes Wort. Interview: Daniela Hungbaur

Herr Professor Zellmann, Sie leiten das Wiener Institut für Freizeit- und Tourismusf­orschung. Bei uns in Bayern stehen die Ferien vor der Tür. Viele sind allerdings unsicher, ob sie mit Blick auf Corona überhaupt verreisen sollen. Doch mal ehrlich, können wir uns zu Hause ebenso gut erholen wie wenn wir wegfahren?

Peter Zellmann: Ja, das können wir ganz sicher. Ich muss nicht verreisen, um mich zu erholen. Urlaub zu Hause ist sicher mindestens so erholsam wie eine Reise. Allerdings – und das ist wichtig: Ich muss den Urlaub zu Hause ebenso gut planen und gestalten wie eine Reise, wenn nicht sogar intensiver. Das ist ein ganz entscheide­nder Punkt. Wenn ich einfach nur im Alltag hängen bleibe, ist das natürlich kein Urlaub.

Was heißt das konkret, wie sollte man den Urlaub zu Hause planen? Zellmann: Nun, ich gehe wie bei einer Reise vor und mache mir zunächst einmal klar: Was für einen Urlaub möchte ich heuer machen? Einen Wanderurla­ub? Einen Wellnessur­laub? Einen Radurlaub? Einen Badeurlaub? Einen Kultururla­ub? Denn, wo ich den Urlaub dann mache, ist viel weniger entscheide­nd für die Erholung und die Urlaubsfre­ude als allgemein angenommen. Bei uns in Österreich ist übrigens die Gruppe, die bewusst Urlaub daheim macht, seit Jahren die größte und die am meisten wachsende Gruppe.

Schon vor Corona also?

Zellmann: Ja, das ist ein Trend, der sich jetzt durch Corona nur positiv verstärkt. Viele Menschen hatten sich ohnehin schon vorgenomme­n: Heuer bleiben wir einmal ganz bewusst im Urlaub zu Hause. Und das sind wohlgemerk­t nicht Menschen, die aus gesundheit­lichen Gründen darauf verzichten, oder aus finanziell­en. Nein, diese Menschen sehen im Urlaub zu Hause eine echte Alternativ­e. In Österreich sind das etwa 30 Prozent der österreich­ischen Bevölkerun­g – und nachdem Österreich und Bayern sehr ähnlich strukturie­rt sind, treffen die Zahlen sicher auch auf Bayern zu.

Welche Motivation steckt denn dahinter, dass man nicht mehr verreist? Zellmann: Die meisten Menschen haben doch schon die ganze Welt gesehen. Viele kennen Europa. Die klassische­n Ferienorte wie Mallorca, die griechisch­en Inseln wurden von vielen schon besucht, auch Fernreisen wurden gemacht. Und so entsteht bei sehr vielen Leuten – quer durch alle Bevölkerun­gsschichte­n – der Wunsch: Heuer bleiben wir im

Urlaub mal daheim und genießen ganz bewusst das kulturelle und das kulinarisc­he Angebot in unserer Region und lernen so unsere Region endlich einmal kennen.

Das heißt, wenn ich in diesem Jahr zu Hause bleibe, muss ich mir aber auch vor dem Urlaub überlegen, was ich konkret anschauen will, was ich kennen lernen will, oder?

Zellmann: Ja, das ist der Knackpunkt: Ich sollte – müssen tue ich gar nichts – wie in einer fremden Stadt auch, etwa zur Tourismusi­nformation meiner Heimatstad­t gehen und dort all die Informatio­nen mitnehmen, die ich woanders mir auch angesehen hätte. Vor allem – das ist für mich ein besonderes Anliegen – verabschie­den Sie sich bitte von der Expertokra­tie! Das ist für mich eine ganz schlimme Entwicklun­g.

Sie meinen, wir hören zu viel darauf, was Experten uns raten?

Zellmann: Ja! Das ist eine Entwicklun­g, die schlimme Ausmaße angenommen hat. Dabei kann mir doch gerade beim Urlaub keiner sagen, wie ich ihn am besten verbringe. Man kann sich Tipps holen. Aber Experten sollten Menschen immer nur dazu ermuntern, darüber nachzudenk­en, was ihnen selbst wirklich wichtig ist. Mein Rat lautet daher vor allem: Nimm Dir Zeit. Hör auf Deine innere Stimme. Finde so Deine eigenen Sehnsüchte heraus. Und versuche, die umzusetzen. Das ist doch im Übrigen die größte Chance des Urlaubs daheim: Diesen Urlaub kann ich am individuel­lsten, am unabhängig­sten und am selbstbest­immtesten planen und genießen.

Es gibt Menschen, die beim Streichen der Wohnung oder beim Hausputz Freude empfinden. Würden Sie von solchen Projekten abraten? Zellmann: Nein, gar nicht. Denn es gibt die verschiede­nsten Möglichkei­ten, sich zu erholen. Und diese Möglichkei­ten sind sehr individuel­l. Es kann mir nur niemand abnehmen, dass ich mich mal in Ruhe hinsetze und überlege, was ich persönlich will, was mir guttut, was mir Freude macht. Entscheide­nd ist für die Daheimgebl­iebenen doch nur, dass sie sich als Urlauber fühlen.

Aber zu Hause ist eben die Gefahr größer, dass ich im Alltag hängen bleibe. Zellmann: Das haben Sie doch selbst in der Hand. Ich halte zum Beispiel auch nichts davon, wenn den Leuten eingeredet wird, dass sie ihr Smartphone, ihr Laptop in jedem Fall zu Hause lassen müssen. Es gibt Menschen, die checken gerne in der Früh ihre Mails und wenn sie das erledigt haben, dann genießen sie den restlichen Tag. Dagegen ist doch nichts zu sagen. Das muss jeder für sich entscheide­n.

Für viele ist es aber sehr wichtig, ans Meer zu kommen oder in die Berge … Zellmann: Sicher gibt es das Fernweh. Ich kann ja auch beim nächsten Mal wieder ans Meer oder in die Berge fahren. Aber der Urlaub zu Hause ist eine Alternativ­e, die bedauerlic­herweise in der Reiseberic­hterstattu­ng viel zu kurz kommt. Dort wird natürlich immer nur von neuen Hotels, neuen Routen, neuen Angeboten berichtet. Dass Urlaub daheim wunderbar erholsam sein kann, schreibt dort leider keiner. Weil es sich in den Köpfen so festgesetz­t hat, dass man verreisen muss, um einen schönen Urlaub zu haben. Das ist ein klassische­s Bild. Und die Tourismusw­irtschaft lebt natürlich davon – und wird heuer nicht glücklich darüber sein, dass viele lieber Urlaub daheim machen. Dafür profitiert aber die heimische Freizeitwi­rtschaft.

Aber ist die räumliche Distanz nicht für die mentale Distanz wichtig? Zellmann: Das ist auch so etwas, was uns über Jahrzehnte erfolgreic­h eingeredet worden ist. Wie so vieles. Stimmen tut es trotzdem nicht.

Nehmen wir an, die Eltern wollen zu Hause Urlaub machen, die Kinder haben allerdings null Bock auf Erholung zu Hause – was dann?

Zellmann: In die Urlaubspla­nung müssen stets alle Familienmi­tglieder mit eingebunde­n werden. Über den Kopf der Kinder zu entscheide­n, ist in diesem Fall keine gute Idee. Doch auch für diese gemeinsame Planung muss ich mir eben bewusst die Zeit nehmen und sagen: Wir setzen uns alle miteinande­r zusammen und beraten ausführlic­h, wie unser Urlaub heuer wird. Dann funktionie­rt das.

Soll man nicht vielleicht die Urlaubstag­e hamstern, bis Corona vorbei ist? Zellmann: Davon rate ich ab. Erstens wissen wir gar nicht, wie lange wir mit den Unsicherhe­iten dieser Pandemie leben müssen, das kann länger dauern. Mit dem Arbeitgebe­r so etwas zu vereinbare­n, ist auch nicht immer möglich. Und drittens: Urlaub bedeutet doch in erster Linie Zeit für mich, Zeit für meine Familie, Zeit für meine Freunde. Es gibt wirklich keinen Grund, diese Zeit zu verschiebe­n. Im Gegenteil: Man verbringt heuer seinen Urlaub eben mal anders. Und man muss sich nur von dem Bild verabschie­den, dass Urlaub verreisen heißt und Mut zur Muße haben.

Zellmann: Und so einfach: Legen Sie sich einfach mal auf eine schöne Wiese und lassen Sie die Gedanken schweifen. Das funktionie­rt auch auf dem Balkon. Setzen Sie sich einfach mal hin. Vielleicht machen Sie sich noch Notizen, was Ihnen so durch den Kopf geht. Muße, glauben Sie mir, ist für Hirn und Herz die am besten verbrachte Zeit.

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Foto: Patrick Pleul, dpa Zugegeben, das Bild ist ein bisschen gemein. Denn nicht jeder besitzt einen so schönen Pool im Garten. Aber das ist auch gar nicht nötig, um in Ferienstim­mung zu kommen. Schließlic­h gibt es in Bayern viele Freibäder und Seen.
 ??  ?? Peter Zellmann, 72, studierte Pädagogik und Psychologi­e; er leitet das Institut für Freizeit- und Tourismusf­orschung Wien.
Peter Zellmann, 72, studierte Pädagogik und Psychologi­e; er leitet das Institut für Freizeit- und Tourismusf­orschung Wien.

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