Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Der ewig Suchende
Der Oberallgäuer Peter Melchin ist Gründer und Organisator des „Laufs der guten Hoffnung“. Wie eine Alpenquerung seinen Blick für die Hilfe in Afrika schärfte und eine Ohrfeige von Günter Netzer sein Leben lenkte
Immenstadt Es ist eine Welt der Kontraste, in die uns Peter Melchin mitnimmt. Der Gründer des „Laufs der guten Hoffnung“eröffnet das Gespräch mit einem zehnminütigen Solo auf dem Flügel – in roter Trainingsjacke, blauer Jogginghose, Flipflops. Auf dem Instrument steht eine Specksteinfigur von Johann Sebastian Bach, daneben ein verstaubter Kerzenständer, davor eine Handvoll polierter Gitarren. Wie das Bühnenbild im Wohnzimmer des 63-Jährigen aus Gegensätzen besteht, so wechseln sich in Melchins Sprache messerscharfe Analysen mit malerischen Ausschweifungen ab: „Die Unzufriedenheit im Hamsterrad hat mich dazu gebracht, dass ich heute mein Gesicht hergebe, um Kindern in Afrika ein Gesicht zu geben.“
Melchin ist Gründer einer Bewegung, die 2008 ins Leben rief, was heute bayernweit das zweitgrößte Hilfsprojekt für Afrika ist: Vor zwölf Jahren gründete der gebürtige Kemptener das Benefiz-Event „Lauf der guten Hoffnung“. Mit der Veranstaltung im Oberallgäu wollen Melchin und seine Mitstreiter vom Verein „Gegen Noma Parmed“auf die bakterielle Kinderkrankheit Noma (Wangenbrand) aufmerksam machen. Der Verein setzt sich für deren Bekämpfung sowie für eine Besserung der medizinischen Versorgung in Afrika, vorwiegend in Burkina Faso, ein.
Der Blick auf Kontraste schärft sich, wenn Peter Melchin die Weggefährten aufzählt, die ihn geprägt haben: Ballonfahrt-Pionier Bertrand Piccard, Schauspieler Michael Mendl, Fußball-Legende Günter Netzer, Bergsteiger Thomas Huber. Der Drang nach Selbstverwirklichung und der Wunsch, Heimat zu finden, ringen seit jeher in Melchin. „Ich bin vor dem neunten Lebensjahr ein halbes Dutzend Mal umgezogen. Ich musste Heimat immer neu erfinden“, sagt der Immenstädter. Über Hammelburg und Detmold trieb es ihn nach Werne und Bochum, wo er als Teenager ein einschneidendes Erlebnis machte.
Der in seiner Kindheit fanatische Anhänger des VfL Bochum jagte bei einem Gastspiel von Borussia Mönchengladbach 1968 im DFB-PokalViertelfinale als Zehnjähriger Mittelfeldregisseur Günter Netzer durch den Kabinengang. „Ich habe ihn acht, neun Mal nach einem Autogramm gefragt – aber er winkte ab“, erinnert sich Melchin, der sich auch von einer Drohung Netzers nicht abbringen ließ. „Heutzutage undenkbar: Er sagte, er knallt mir eine, wenn ich ihn nicht in Ruhe lasse.“Melchin blieb dran – und der spätere Weltmeister konsequent: Er verpasste dem renitenten Kind eine schallende Ohrfeige. „Da habe ich mir in den Kopf gesetzt, hartnäckig zu bleiben, bis ich schaffe, was ich will“, sagt Melchin. Das Muster in seinem Leben.
Mit 15 folgte die Rückkehr ins Allgäu, nach Immenstadt. Nach Schule und Bundeswehr in Sonthofen, Warendorf, Bremen, schließlich das Studium des Sportmanagements in Trier. Doch nirgends, auch nicht in seiner zwölfjährigen Tätigkeit als Sportlehrer an der Berufsschule in Immenstadt, fand er seine Erfüllung. Im Gegenteil: Nach der Investition in etliche „Pleitenprojekte“ereilte Peter Melchin 2006 der emotionale Kahlschlag. „Ich war im Hamsterrad gefangen, empfand keine Freude mehr“, sagt Melchin. „Ich habe nach Erfüllung gesucht und habe nur Fragmente gefunden.“Der Glaube an eine Sinngebung war es, der Melchin zurück in die Spur bringen sollte.
Alex Krapp, heutiger Chefredakteur des Magazins lockte ihn eben 2006 zu einem Fotoshooting über das Bergsteigen nach Korsika. „Da habe ich begonnen, Freude zu tanken“, erinnert er sich an die erkenntnisreiche Woche. Nur der Funke fehlte noch. Und diesen fand er, als er in einem Buch vom „Urlaubstipp“einer Alpenquerung über acht Monate von Wien nach Nizza las – „und im Bruchteil einer Sekunde wusste ich: Das Leben hat mich wieder“, sagt der Oberallgäuer. Die Suche nach einem Förderer für das Projekt trieb ihn zu Jean-Jacques Santarelli, Geschäftsführer von „Edelweiss“und heutiger Vorsitzender des Vereins gegen Noma. Santarelli schlug Melchin vor, das Abenteuer als Lauf für die Kinder in Afrika „herzugeben“– der Benefizlauf war geboren. „Ich hatte das Ziel und den Antrieb – nun hatte ich den Sinn gefunden“, sagt Melchin. Vor seinem Auftakt 2008 reiste er zum ersten von bis heute 19 Besuchen nach Burkina Faso und erlebte das Leid der Noma-Kranken vor Ort. „Ich war dieser Sache in meiner Welt nicht gewachsen, und habe beschlossen, mich dafür einsetzen“, sagt Melchin.
Und so bewältigte der heute 63-Jährige in acht Monaten die Querung über elf 4000er-Gipfel in sieben Ländern, gegen Grenzerfahrungen und eine fünfwöchige Einsamkeit im Zelt, in Schnee und Kälte. Thomas Huber, der ältere der Kletter-Ikonen „Huberbuam“, war es letztlich, der Melchin beim Familienbesuch in Berchtesgaden eine
Autogrammkarte mit dem Wunsch „Alles Gute auf dem Lauf der guten Hoffnung“mitgab und sich so zum Namensgeber aufschwang.
Inzwischen ist die 13. Auflage des Laufs im Gange. Über sechs Wochen können Einzelläufer oder Gruppen ihrer Wanderung einen Sinn geben und damit spenden. Als einer von 232 Vereinen in Deutschland führt „Gegen Noma“das deutsche Spendensiegel – heuer fließen bis Juli 500000 Euro Förderung für Hilfsprojekte. Der Verein hat medizinisches Personal ausgebildet, eine Theatergruppe aufgestellt, die in 80 Dörfern vorstellt, wie man Noma erkennt, und hat in Schauspieler Michael Mendl einen schillernden Schirmherrn gefunden. „Wir wollen weiter wachsen, 2030 möchten wir der größte Spendenlauf in Europa sein“, sagt der Gründer.
Was ihm allerdings nie gelang – auch nicht nach der Ohrfeige – ist, ein Autogramm von Günter Netzer zu ergattern. Und so klingt es wie eine Fußnote von 1968 – das Samenkorn für die Idee, die noch heute in Peter Melchin arbeitet. „Wer weiß, vielleicht laufen wir uns eines Tages noch einmal über den Weg“, sagt Peter Melchin. „Ich erwarte nie viel. Und suche immer weiter.“