Augsburger Allgemeine (Land Nord)

„Das richtet sich nicht gegen Christen“

Nach 86 Jahren ist die frühere Kirche Hagia Sophia wieder eine Moschee. Zum ersten Freitagsge­bet kommen Hunderttau­sende. Warum das Großereign­is dennoch die Nation spaltet

- VON SUSANNE GÜSTEN Deutschen Welle.

Istanbul Scharenwei­se pilgern die Menschen am Freitagmor­gen durch die gesperrten Straßen der Altstadt hinauf zur Anhöhe der Halbinsel, auf der die Hagia Sophia thront. Seit dem frühen Morgen strömen sie zu Fuß bergan, um dabei zu sein beim ersten Freitagsge­bet in der einstigen und nunmehrige­n Moschee seit 86 Jahren. Die allermeist­en müssen ihre Gebetstepp­iche in den umliegende­n Gassen ausrollen, weil der Platz vor der Hagia Sophia längst überfüllt ist. Aber die Atmosphäre ist friedlich und feierlich.

Mehmet Fatih und seine Familie sind aus dem zentralana­tolischen Konya gekommen, um dabei zu sein: Sieben Stunden lang sind sie mit drei Kleinkinde­rn im Auto gesessen und sitzen nun festlich gekleidet unterhalb der Hagia Sophia. Das Gebet in der Ayasofya, wie die Hagia Sophia auf Türkisch heißt, sei für einen türkischen Muslim die Erfüllung eines Lebenstrau­ms, sagt der 32-jährige Architekt.

Warum? Fatih weist auf seine Frau, eine elegant gekleidete Dame mit Sonnenbril­le und schwarz-lila Kopftuch. „Meine Frau hat wegen ihres Kopftuchs nicht studieren dürfen“, sagt er. Zeit seines Lebens hätten er und seine Angehörige­n sich fremd fühlen müssen im eigenen Land, fremdbesti­mmt vom Geist des Säkularism­us, den Staatsgrün­der Kemal Atatürk verordnete. Die Umwandlung der Hagia Sophia zur Moschee symbolisie­re, dass die Türkei nun bei sich angekommen sei: nach fast 100 Jahren Republik endlich Herr im eigenen Haus.

Dann wächst die Menge auf mehrere 100000 Menschen an. Drohnenbil­der des Fernsehens zeigen ein Meer von Menschen in den Straßen um die ehemalige Kirche, die im 6. Jahrhunder­t gebaut, im Jahr 1453 von Sultan Mehmet II zur Moschee erklärt, im Jahr 1934 durch eine Entscheidu­ng Atatürks zum Museum wurde und nun wieder zur Moschee wird.

Präsident Recep Tayyip Erdogan trifft etwa eine Stunde vor dem Gebet ein. Er hat sein halbes Kabinett, hohe Generäle und Politiker im Gefolge: Die religiöse Feier wird als zelebriert. In dem riesigen Raum unter der mehr als 50 Meter hohen und über 30 Meter breiten Kuppel wirkt die Gemeinde fast ein wenig verloren. Weiße Stoffbahne­n verhüllen das weltberühm­te Mosaik der Gottesmutt­er Maria mit dem Jesuskind, weil der Islam keine Abbildunge­n des Menschen duldet. Die Behörden betonen, es sei „kein einziger Nagel eingeschla­gen“worden, und wollen damit die Befürchtun­g zerstreuen, das alte Mauerwerk könnte beim Aufhängen der Vorhänge beschädigt worden sein.

Inzwischen ist Zeit für das Freitagsge­bet. Vor der Gebetsnisc­he zieht sich Erdogan eine weiße Gebetskapp­e an und greift zum Mikrofon – doch nicht, um eine Rede zu halten: Der 66-jährige Präsident intoniert die Fatiha-Sure, das erste Kapitel des Korans. Von Erdogan ist bekannt, dass er in seiner Freizeit gerne Koransuren rezitiert.

Ein Tag der Einheit der Türkei ist dieser Freitag trotz des Massenandr­angs nicht. „Ich bin auch ein Bürger der Türkei“, sagt Literaturn­obelpreist­räger Orhan Pamuk. Als Atatürk die Hagia Sophia zum Museum erklärt habe, sei das ein Zeichen gewesen, dass die Türkei säkular und Teil der europäisch­en Kultur sein wollte, sagt Pamuk der

Mit der Rückumwand­lung in einer Moschee sage die Türkei: „Wir respektier­en den Säkularism­us von Kemal Atatürk nicht mehr.“Diese Botschaft will Pamuk „und Millionen andere, die säkular eingestell­t sind“, nicht mittragen. Nicht nur Prominente wie Pamuk fehlen bei der Feierlichk­eit. Auch Abdullah Gül, Erdogans Vorgänger als Staatspräs­ident und früStaatsa­kt herer politische­r Weggefährt­e, lehnt die Einladung ab. Die Vorsitzend­en der Opposition­sparteien im Parlament und der Istanbuler Bürgermeis­ter Ekrem Imamoglu sind ebenfalls nicht erschienen. Nach einer Umfrage sind mehr als die Hälfte der türkischen Wähler überzeugt, dass die Regierung die Hagia Sophia zur Moschee gemacht hat, um etwa von der schlechten Wirtschaft­slage des Landes abzulenken.

Andere aber sind zufrieden: Die „Auferstehu­ng“der türkischen Nation sei dies, sagen Studenten aus Bursa. Zu lange seien türkische Muslime bevormunde­t worden. Doch eines sei ihnen dabei ganz wichtig: „Bitte sagen Sie das der Jugend in Deutschlan­d und Europa: Das richtet sich nicht gegen den Westen, die Christen oder Europa – wir kommen in Frieden.“

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Foto: Turkish Presidency, AP, dpa Die gläubigen Muslime sind wegen der Corona-Krise mit Masken zum Freitagsge­bet in der riesigen Istanbuler Hagia Sophia erschienen.

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