Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Die Frage der Woche Sonnenbrille zum Plaudern nicht absetzen?
Es ist Sommer! Die Sonne scheint! Die Sonne blendet ab und an auch! Gut, dass es Sonnenbrillen gibt. So ein Gestell ist schließlich nicht nur ein Modeaccessoire, es hat, falls das jemand im jährlich wechselnden Formenhype doch vergessen haben sollte, eine Aufgabe: nämlich, Augen vor schädlichem UV-Licht zu schützen. Bei manch einem sind sogar geschliffene Gläser eingebaut, sodass die Sonnenbrille auch noch eine Sehhilfe ist. Sie ahnen, worauf ich hinaus will: Eine Sonnenbrille draußen, bei strahlendem Sonnenschein während einer Plauderei mit Bekannten abzunehmen, ist sinnlos. Schließlich stoppt die UV-Strahlung nicht, sobald Töne aus unserem Mund kommen. Und was hat der Gegenüber davon, wenn ihn ein kurzsichtiger Mensch unsicher anblinzelt?
Laut gängiger Etiketteregeln ist es natürlich höflicher, die Sonnenbrille abzunehmen. Weil Augenkontakt, Vertrauen, nonverbale Kommunikation und so. Schon klar, alles richtig. Wissen wir seit der Ritterzeit: Wer das Visier hebt, signalisiert friedliche Absichten. Aber wir rennen nicht mehr mit Schwertern umher und warum sollte man beim Smalltalk auf der Straße Feindliches im Schilde führen? Zumal die Person, die man da zufällig trifft, einen ja in der Regel bereits kennt. Rein logisch betrachtet ist die Ritterregel also überholt. Moderner Tipp von Benimmexperten daher: Einfach ankündigen, dass man die Regel bricht, also die Sonnenbrille gerne anlässt, weil man sonst nichts sieht, die Augen tränen, man geblendet ist, etc. So signalisiert man trotzdem Wertschätzung.
Und an alle Ritter da draußen: Mal ehrlich, während eines Gesprächs auf ein schönes Visier/Gestell zu schauen, ist doch angenehmer, als in zusammengekniffene, sonnengeplagte Augen.
Kommt es denn darauf überhaupt noch an in Zeiten, da wir uns an großflächig mit Mund-Nasenschutz verhüllte Gesichter gewöhnt haben, die womöglich noch von Fahrradhelmen gekrönt sind? Ja. Gerade dieser Masken-Sommer zeigt, wie wichtig es ist, sich trotzdem noch mit „offenem Visier“zu begegnen. Ob Nasenspitze, Zahnreihen und Doppelkinn sichtbar sind, ist zweitrangig. Entscheidend ist der Blickkontakt, entscheidend ist die Augenpartie.
Wenn das Anschauen eines anderen an einer glatten Sonnenbrille abprallt wie an einer geschlossenen Türe (womöglich noch giftgrün oder schwarz alles verschluckend oder gar verspiegelt), ist das nicht nur unangenehm. Dunkle Gläser vereiteln eine Begegnung auf Augenhöhe. Sonnenbebrillte, die es nicht für nötig halten, bei der Begegnung auf der Straße das Ding abzunehmen, oder hochzuschieben, erscheinen ignorant und unhöflich und imprägnieren sich gegen zwischenmenschliche Zugewandtheit. Vermutlich ist in ihren Augen auch die Sorge ums eigene coole Aussehen wichtiger als eine entgegenkommende Geste für das Gegenüber. Wohin auch mit der Sonnenbrille? Das umständliche Gefummel kann man sich doch sparen, schließlich ist die Sonnenbrille ein Alltags-Accessoire wie Bart oder Wimperntusche – und die nimmt man ja auch nicht ab, bloß weil man kurz draußen stehen bleibt, um mit Leuten ein paar schicke Worte zu wechseln …
Wie begegnet man also jemandem, der nicht von selbst spürt, dass das Anbehalten der Sonnenbrille Missachtung, zumindest Desinteresse dem anderen gegenüber ausdrückt, Menschen also, die zu einem Perspektivwechsel gar nicht mehr in der Lage sind? Wenn nicht von Angesicht zu Angesicht, dann doch zumindest mit Stirnrunzeln.