Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Stadt, Land, Flucht?
Forscher stellen eine „neue Phase der Stadt-Land-Wanderung“fest. Welche Rolle Immobilienpreise spielen, welche Regionen profitieren – und was Corona verändert
Augsburg „Kommt jetzt die große Stadtflucht?“, „Wie werden Städte das Coronavirus überleben?“, „Wie Corona die Leute scheinbar aufs Land zieht“: Viele Schlagzeilen in der Pandemie, manche früher, manche später, haben den Abgesang auf ein ganzes Zivilisationsmodell angestimmt, wenn nicht gesungen. Und das weltweit. Der Tenor: In der Corona-Pandemie könnten sich viele Menschen von der als eng und bedrohlich wahrgenommenen Stadt abwenden, hin zu einem Leben an frischer, Aerosol-freier Luft in ländlicher Idylle. Tatsächlich hat sich zuletzt etwas im Verhältnis zwischen Stadt und Land verschoben. Corona aber hat damit nur wenig zu tun.
Wie eine aktuelle Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB) zeigt, wandern innerhalb Deutschlands immer mehr Großstädter ins Umland ab. Zwar steigt die Bevölkerungszahl in den meisten Großstädten grundsätzlich weiter an, überwiegend durch Zuzüge junger Menschen und aus dem Ausland. Wie die zwischen 1991 und 2017 erfassten Zahlen zeigen, verlassen aber im Gegenzug mehr Menschen die großen Städte in Richtung der Umlandgemeinden, als von dort zuziehen. In der Studie wurden ausschließlich Umzüge deutscher Staatsbürger ausgewertet, um statistische Verzerrungen durch den starken Zuzug von Flüchtlingen 2015 und 2016 zu minimieren.
Schon seit 2012 hat sich der Zuzug aus umliegenden Gemeinden verlangsamt. 2014 dann der Wendepunkt: Erstmals seit über zehn Jahren gingen mehr Menschen aus der Großstadt weg, als Menschen in diese zogen – ein Trend, der zumindest bis 2017 anhielt. „Die Ergebnisse deuten auf eine neue Phase der StadtLand-Wanderung und ein Wiedereinsetzen der Suburbanisierung hin“, sagt Nico Stawarz vom BiB. Suburbanisierung? So wird der Prozess bezeichnet, wenn sich Bevölkerung und Arbeitsplätze aus der Kernstadt in das städtische Umland verlagern (engl. suburb: „Vorort“).
Thilo Lang, Wirtschaftsgeograf und Stadtforscher am Leibniz-Institut für Länderkunde in Leipzig, erklärt die Entwicklung mit einem Paradoxon: Weil immer mehr Menschen in die Städte wollen, ziehen immer mehr Menschen in die Vorstädte. „Wir beobachten schon länger Ausweich-Bewegungen“, sagt der Experte. „Die großen Städte üben nach wie vor eine starke Magnetwirkung aus, gerade auf Menschen, die jung sind oder aus dem Ausland kommen. Das hat den Druck auf den Immobilienmarkt erhöht, die Preise sind gestiegen – und viele sind gezwungen, auf der Suche nach bezahlbarem Wohnraum auf das Umland auszuweichen.“
Diese Entwicklung sei so bereits in den 2000er-Jahren eingetreten, habe sich aber in den vergangenen fünf Jahren verschärft. „Schauen Sie nach München oder Augsburg: Wenn Sie innerhalb der Stadt in eine neue Wohnung umziehen möchten, finden Sie für das gleiche Geld normalerweise nur etwas Kleineres. Also sehen Sie sich nach anderen Möglichkeiten um, die in Reichweite der Stadt liegen.“
Hohe Immobilienpreise und ein fehlendes Wohnungsangebot sind ein Grund für den Trend zum Umland. Stadtforscher Lang betont, qualitative Untersuchungen zu den jüngeren Entwicklungen der Suburbanisierung stünden noch aus. Jedoch ließen auch niedrigere Bauzinsen und eine oft gute Verkehrsanbindung das nähere Umland als Wohnort-Alternative zum Leben in der Kernstadt attraktiv erscheinen – etwa für Familien. Mittelfristig würden auch mittelgroße Städte in Reichweite zu den Metropolen beliebter. Zudem seien immer mehr alternative Lebensformen und Lebensgemeinschaften zu beobachten, die sich von der Stadt aufs Land verlagerten. Lang mag aber nicht pauschal eine Großstadtflucht konstatieren: „Es ist gut vorstellbar, dass das enorme Wachstum der Großstädte abnimmt. Von einer kompletten Trendumkehr kann man aber sicher nicht sprechen.“
Davor, die Untersuchung des BiB zu pauschal zu bewerten, warnt auch Peter Eibich. Er leitet stellvertretend die Forschungsgruppe „Demografie der Arbeit“am Max-Planck-Institut in Rostock und schränkt ein: „In peripher gelegenen Räumen mit schlechter Verkehrsanbindung oder in strukturschwachen Regionen – viele davon im Osten Deutschlands – profitiert auch das Umland von diesen Wanderungsbewegungen nur wenig.“Nur das Umland der größeren Städte – Berlin, Hamburg oder in Bayern etwa München und Augsburg – erlebe starke Zuwächse.
Hat Corona die viel beschworene Stadtflucht bewirkt? Für valide Einschätzungen ist es noch zu früh, betont Eibich. „Neue oder neu entdeckte Krisen-Instrumente wie Homeoffice können Bevölkerungsbewegungen von Großstädten in die umliegenden, ländlichen Gebiete begünstigen“, sagt er und verweist auf viele Arbeitgeber, die gerade am Wirtschaftsstandort Bayern auf flexiblere Arbeitsmodelle umgestellt hätten. „Die digitalen Infrastrukturen und Kapazitäten sind jetzt, in der Pandemie, aufgebaut worden und bleiben auch. Das dürfte vielen Pendlern den langen Weg in die Arbeit ersparen – und damit einen möglichen Umzug in die Stadt überflüssig machen.“Dass gerade die Arbeit zu Hause die Anziehungskraft der Stadt nachhaltig ausbremsen könnte, bezweifelt der Forscher aber. „Ich glaube, wir reden hier eher von Einzelfällen. Denn auf die strukturellen Nachteile in ländlichen Regionen – die Verkehrsanbindung oder die Internet-Verfügbarkeit – hat Corona keinen großen Einfluss.“Auch Wirtschaftsgeograf Thilo Lang glaubt trotz Homeoffice nicht an eine Trendumkehr: „Die komplett ländlichen Räume werden es weiter schwer haben, die Menschen zu halten.“