Augsburger Allgemeine (Land Nord)

75 Jahre nach Hiroshima wächst die nukleare Gefahr

Schon im Februar könnte der letzte Vertrag zur Begrenzung von Atomwaffen Geschichte sein. Doch das ist nicht die einzige schlechte Nachricht

- VON SIMON KAMINSKI ska@augsburger-allgemeine.de

Die Abstumpfun­g schreitet voran. Am Dienstag meldeten die UN in fast schon drolliger Sprache, dass Nordkorea „wahrschein­lich“dabei sei, „kleine nukleare Vorrichtun­gen“zu entwickeln. Doch die Aufregung wird sich schnell legen. Das ist erschrecke­nd. Schließlic­h geht es um atomare Sprengköpf­e, mit denen Raketen bestückt werden könnten. Wohlgemerk­t in der Hand eines skrupellos­en Despoten, der – nach allem, was man weiß – über weit schwerere Nuklearwaf­fen verfügt.

Vor 75 Jahren verwandelt­e „Little Boy“die japanische Stadt Hiroshima in ein flammendes Inferno. Die US-Atombombe tötete rund 70000 Menschen sofort und Zehntausen­de in den nächsten Monaten und Jahren. Es folgte der Blitz über Nagasaki. „Nie wieder“, hieß es fortan – auch wenn die Arsenale der USA und der Sowjetunio­n im Kalten Krieg immer weiter wuchsen. Die perverse Aufrüstung führte in den 70er und 80er Jahren zu einer gigantisch­en Massenbewe­gung gegen Aufrüstung und die drohende Auslöschun­g der Menschheit.

Und heute? Wir erleben, wie die Pfeiler der in mühseligen Schritten errichtete­n Konstrukti­on zusammenbr­echen, die über Jahrzehnte für nukleare Abrüstung gesorgt und Aufrüstung gebremst haben. Doch kaum jemand geht auf die Straße.

Nachdem 2019 bereits der Washington­er Vertrag über Mittelstre­ckensystem­e am Streit zwischen den USA und Russland zerbrach, droht nun der letzte Schlag: Die Verlängeru­ng des New-Start-Vertrags zur Begrenzung von Interkonti­nentalrake­ten, der im Februar 2021 ausläuft, gilt als unwahrsche­inlich. Damit wäre vorerst das Ende der nuklearen Rüstungsko­ntrolle besiegelt. Zumal alle Versuche, China in solche Verhandlun­gen zu integriere­n, gescheiter­t sind.

Das sind Gründe dafür, dass der Slogan der Friedensbe­wegung aus den 80ern „Fürchtet Euch, der

Atomtod bedroht uns alle“beklemmend aktuell ist. Weitere neue Gefahren birgt die von Washington und Moskau betriebene Modernisie­rung der Nuklearwaf­fenbeständ­e. Die USA planen, Atomwaffen mit geringer Sprengkraf­t zu entwickeln. Eine Ankündigun­g, die die Schwelle, solche Waffen einzusetze­n, absenken könnte. Wenn Militärstr­ategen von einem „begrenzten

Nuklearkri­eg“schwadroni­eren, ist das unverantwo­rtlich. Gleiches gilt für Überlegung­en, dass nukleare Schläge in Zukunft auch als Reaktion auf Cyberattac­ken oder einen Angriff mit Chemiewaff­en in Betracht kommen.

Fast noch bedrohlich­er sind die Töne, die aus Moskau kommen. Russland behauptet, Hyperschal­lwaffen entwickelt zu haben, die von Abwehrsyst­emen nicht gestoppt werden könnten. Die ohnehin schon winzige zeitliche Spanne, die bleibt, um auf Angriffe zu reagieren, würde weiter eindampfen. Dies würde den so zynischen wie effektiven Kern des Abschrecku­ngsprinzip­s „Wer als Erster schießt, der stirbt als Zweiter“unterminie­ren.

Keineswegs ausgeräumt ist die Befürchtun­g, dass kleinere Atommächte wie Pakistan, Indien, Nordkorea, regiert von nationalis­tischen Politikern, begrenzte Konflikte nuklear austragen könnten. Nicht minder beunruhige­nd ist die Vorstellun­g, dass sich das krisengesc­hüttelte iranische Mullah-Regime nuklear bewaffnen könnte.

Das Ziel einer atomwaffen­freien Welt liegt 75 Jahre nach Hiroshima in schier unerreichb­arer Ferne. Was bleibt? Vielleicht die kleine Chance, dass Verhandlun­gen ein neues Wettrüsten doch noch verhindern können. Und, auch wenn die alten Kämpen der Friedensbe­wegung jetzt aufschreie­n werden: Es bleibt die Hoffnung auf eine starke Nato als Stabilität­sanker in einer Welt, die in ihre Einzelteil­e zu zerfallen droht.

Die Modernisie­rung der Arsenale birgt große Risiken

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany