Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Grüne wollen Fleischbra­nche komplett umkrempeln

Die Partei will als Reaktion auf den Skandal große Fleischbet­riebe wie Tönnies in die Pflicht nehmen und legen ein Reformkonz­ept vor. Prinzipiel­le Zustimmung kommt von Ministerin Julia Klöckner

- VON STEFAN LANGE

Berlin Verängstig­te und misshandel­te Tiere, geknechtet­e Mitarbeite­r: Das Coronaviru­s hat die Arbeitswei­se auf einigen deutschen Großschlac­hthöfen in den Fokus gerückt. Die Politik reagierte und erließ neue Regeln, die von Teilen der Branche offenbar schon wieder umgangen werden. Die Grünen wollen dem Gebaren nun insgesamt einen Riegel vorschiebe­n. Agrarexper­ten der Partei haben ein Konzept erarbeitet, das die Branche komplett umkrempeln soll. Dezentrali­sierung ist das Stichwort, und die befürworte­t auch die Bundesland­wirtschaft­sministeri­n. „Statt weniger, großer Zentralbet­riebe in der Schlachtun­g ist es mir wichtig, zu schauen, was die kleinen brauchen“, sagt Julia Klöckner von der CDU.

Friedrich Ostendorff ist gelernter Bauer, er bewirtscha­ftet 80 Hektar Fläche im Ökolandbau und hält unter anderem Schweine. Ostendorff ist auch agrarpolit­ischer Sprecher der Grünen-Bundestags­fraktion und Co-Autor des fünfseitig­en Konzepts, das unserer Redaktion exklusiv vorlag. „Schlachtun­g und Fleischver­arbeitung haben sich zu einer Industrie entwickelt, die vor der Corona-Pandemie weit außerhalb des Radars der Öffentlich­keit lag“, sagt Ostendorff. „Die Arbeitsund Wohnbeding­ungen für die Beschäftig­ten sind katastroph­al und Tiere leiden“, fasst Ostendorff zusammen.

Nach Zahlen des Bundesland­wirtschaft­sministeri­ums gab es 2019 in Deutschlan­d 317 Schlachtbe­triebe (ohne Geflügel) mit mehr als 20 Beschäftig­ten. Mehr als 55 Millionen Schweine wurden verarbeite­t, dabei konzentrie­rt sich das Geschehen auf lediglich zehn Unternehme­n – sie schlachten rund 80 Prozent der Tiere. Die größten Betriebe finden sich in Nordrhein-Westfalen und Niedersach­sen, weitere große Schlachthö­fe stehen in BadenWürtt­emberg, Sachsen-Anhalt und Bayern.

Die Grünen gehen mit den Großen der Branche hart ins Gericht. Sie beklagen miserable Arbeits- und Wohnbeding­ungen sowie Verstöße gegen Arbeitssch­utzstandar­ds, Hygieneauf­lagen und Seuchensch­utzmaßnahm­en. Die bestehende­n Strukturen sollten deshalb „zugunsten kleiner und mittelstän­discher Unternehme­n verändert werden“, fordert Ostendorff zusammen mit agrarpolit­ischen Sprecherin­nen und Sprechern grüner Landesverb­ände. Eine Kernforder­ung des fünfseitig­en Papiers ist, die bestehende Gebührenor­dnung umzustelle­n. Denn während in industriel­len Schlachtko­nzernen amtliche Veterinäre kontinuier­lich vor Ort sind, entstehen kleineren Betrieben durch Anfahrtsko­sten und geringere Stückzahle­n deutlich höhere Kontrollge­bühren. Eine Einheitsab­gabe pro geschlacht­etem Tier würde hier für faire Wettbewerb­sbedingung­en sorgen.

Darüber hinaus spricht sich die Partei für den Ausbau sogenannte­r alternativ­er Schlachtme­thoden aus, zu denen unter anderem die Weideschla­chtung zählt. Ein weiterer Schwerpunk­t ist die Rückkehr zu kleineren Schlachtst­ätten und Metzgereie­n. Mindestens 40 Prozent der

Schlachtun­gen sollen mittelfris­tig, spätestens in zehn Jahren, in kleinen und mittelstän­dischen Betriebsst­rukturen stattfinde­n, nennen die Grünen als Ziel der Dezentrali­sierung.

Beim Bundesverb­and der Regionalbe­wegung rennen die Grünen damit offene Türen ein. Die Dachorgani­sation der Regionalve­rmarkter fordert nicht erst seit dem Fall Tönnies eine Reform der Ernährungs­wirtschaft. „Wenn wir ernsthaft die Strukturen erhalten wollen, die das Wohl von Mensch, Tier und Klima in den Vordergrun­d stellen, müssen regionale Wirtschaft­skreisläuf­e mit dezentrale­n Strukturen sowohl Teil einer zukünftige­n Lebensmitt­el- als auch Klimapolit­ik sein“, sagt der Vorsitzend­e Heiner Sindel. Ostendorff sieht das genauso. „Fleischbet­riebe sollten wir daran messen, ob sie regional und im Verbrauche­rinteresse agieren“, sagt er.

Die Regierung will „Schlachthö­fe und Metzger, die regional vor Ort sind, erhalten und fördern“, betont Ministerin Klöckner auf Anfrage. Dezentrali­tät bedeute kürzere Transportz­eiten und damit mehr Tierwohl. „Deshalb haben wir bei dem neuen Gesetz darauf geachtet, dass es Ausnahmen für kleine und mittlere Handwerksb­etriebe gibt“, erklärt die CDU-Politikeri­n. Im Übrigen gebe es Förderprog­ramme. „Auch die Weideschla­chtung unterstütz­en wir“, sagt Klöckner. Doch gleichzeit­ig dämpft sie zu hohe Erwartunge­n: „Realistisc­herweise müssen wir alle sehen, dass der Bedarf an Fleischerz­eugnissen für uns Verbrauche­r dadurch allein nicht gedeckt werden kann und wird.“

Tönnies, die Nummer eins in Deutschlan­d, schlachtet nach der Zwangspaus­e wegen einer Vielzahl von Corona-Infizierte­n am Stammsitz in Rheda-Wiedenbrüc­k wieder mehr Schweine, wie ein Konzernspr­echer der Nachrichte­nagentur dpa sagte. Das Unternehme­n hat zudem 15 Tochterges­ellschafte­n gegründet. Kritiker mutmaßen, Tönnies wolle das Gesetz von Arbeitsmin­ister Hubertus Heil (SPD) umgehen, wonach Schlachtbe­triebe mit 50 Beschäftig­ten und mehr ab 2021 keine Werkvertra­gsmitarbei­ter mehr beschäftig­en dürfen. Der Konzern weist das zurück und spricht von einer vorsorglic­hen Gründung.

Ostendorff hingegen warnt: „Industriel­le Großbetrie­be werden durch zahlreiche rechtliche Ausgründun­gen nicht zu Handwerksb­etrieben“, sagt er und betont: „Eine Verwässeru­ng der Gesetzesin­itiative von Hubertus Heil darf es unter keinen Umständen geben.“

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Foto: dpa Mit den Fleischfab­riken gehen die Grünen hart ins Gericht. Künftig soll es mehr kleinere Betriebe geben.

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