Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Zwei gigantische Explosionen erschüttern Beirut
Inmitten politischer Turbulenzen kommt es im Libanon zu dramatischen Szenen
Beirut Hochhäuser schwankten, Balkone krachten zu Boden, Fenster rissen aus ihren Verankerungen. Auf der Stadtautobahn in Beirut türmten sich zerbeulte Autos mit aufgerissenen Türen und aufgeblasenen Airbags. Weite Teile des Hafens und seiner Umgebung waren übersät mit Ziegeln, Betonteilen und zerborstenen Containern.
Zwei gigantische Explosionen erschütterten am Dienstagnachmittag die libanesische Hauptstadt, die bis in das 240 Kilometer entfernte Zypern zu hören waren. Handyvideos zeigten eine riesige Staub- und Feuerwalze, die sich über die umliegenden Wohnviertel wälzte. „Es war wie eine Atombombe“, sagte einer der Augenzeugen, ein 43-jähriger
Lehrer. Nach ersten Berichten kamen durch die Explosionen mindestens 50 Menschen ums Leben, weitere Leichen werden unter den Trümmern vermutet. Der libanesische Gesundheitsminister Hamad Hassan sprach am Dienstagabend von „2700 Verletzten“. Blutüberströmte Passanten irrten unter Schock durch die Straßen. Zahlreiche Besatzungsmitglieder von im Hafen liegenden Schiffen wurden durch die Druckwelle herumgeschleudert und verletzt. In dem hafennahen Einkaufsviertel Hamra blieb nach den Explosionen kaum ein Geschäft, Café oder Restaurant unbeschädigt. Gebäudeteile lösten sich, reihenweise gingen Schaufenster zu Bruch. Autos wurden von Trümmern getroffen.
Die Ursache der Mega-Detonation blieb bis zum Dienstagabend unklar. Der Chef der libanesischen Staatssicherheit, General Abbas Ibrahim, erklärte bei einer ersten Inspektion vor Ort, im Hafen sei ein Lager explodiert, in dem sich Sprengstoff befand, der vor einigen Jahren beschlagnahmt worden sei.
Libanons Präsident Michael Aoun rief am Abend den Obersten Verteidigungsrat zu einer Krisensitzung in seiner Residenz zusammen, dem Baabda Palast. Ministerpräsident Hassan Diab rief für Mittwoch einen „Tag der nationalen Trauer“aus.
Die verheerende Katastrophe trifft den Libanon zu einem Zeitpunkt, an dem das Land in der schwersten Wirtschafts- und Staatskrise
seit dem Ende des Bürgerkriegs 1990 steckt. Der Zedernstaat, einst gepriesen als „die Schweiz des Orients“, ist bankrott. In seinem maroden Banksystem sind mindestens 80 Milliarden Dollar versickert, wahrscheinlich sehr viel mehr. Der Wert der libanesischen Lira fällt seit Monaten ins Bodenlose, die Gehälter haben mittlerweile 80 Prozent ihrer Kaufkraft eingebüßt.
Breite Teile der Bevölkerung im Libanon haben wegen der Inflation ihre Ersparnisse verloren. Die Hälfte aller Bürger lebt an der Armutsgrenze. Immer mehr Geschäfte müssen schließen. Krankenhäuser können ihr Personal nicht mehr bezahlen, während die Zahl der Corona-Infektionen seit Anfang Juli rasant steigt. Weite Teile des Landes sind jeden Tag bis zu 20 Stunden ohne Strom. Selbst die Hauptstadt Beirut liegt abends weitgehend im Dunkeln. Stinkende Müllberge stapeln sich in den Straßen. Die Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) stecken in einer Sackgasse, weil sich Beiruts politische Klasse nicht auf ein Reformprogramm einigen kann.
Zudem will das „Sondertribunal für den Libanon“in Den Haag in dieser Woche am Freitag nach sechs Jahren Prozess das Urteil im HaririProzess verkünden. Vor 15 Jahren wurde der Milliardär und langjährige Ministerpräsident Rafik Hariri in Beirut durch eine Zwei-TonnenLastwagenbombe getötet, die eine ganze Häuserzeile in Schutt und Asche legte. Mit ihm starben damals 21 Menschen, 226 wurden verletzt. Angeklagt sind vier Tatverdächtige der Hisbollah. Alle sind untergetaucht, niemand ist bis heute gefasst. Und so könnten die Urteile angesichts der aufgewühlten Lage im Land die Spannungen zwischen der schiitischen Hisbollah und den sunnitischen Libanesen neu entfachen.
Am Dienstagabend hat das Nachbarland Israel humanitäre Hilfe angeboten. „Unter Anweisung von Verteidigungsminister Benny Gantz und Außenminister Gabi Aschkenasi hat Israel sich an den Libanon durch internationale diplomatische und Verteidigungs-Kanäle gewandt“, teilten beide Minister in einer gemeinsamen Stellungnahme mit. Der libanesischen Regierung sei „medizinische humanitäre Hilfe“angeboten worden. Der Libanon und Israel haben keine diplomatischen Beziehungen. Offiziell befinden sich die beiden Länder noch im Krieg. Libanesen ist jeglicher Kontakt mit Israelis verboten.
Mindestens 50 Tote und 2700 Verletzte