Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Ein Impfstoff ist kein Wundermitt­el

Selbst wenn endlich gegen Covid-19 geimpft werden kann, wird die Welt nicht mehr so sein wie zuvor. Doch Angst vor der Zukunft ist unbegründe­t

- VON MATTHIAS ZIMMERMANN maz@augsburger-allgemeine.de

Wenig hat die Corona-Krise so unbeschade­t überstande­n wie das Bedürfnis der Menschen, sich an einer Heilserzäh­lung festzuhalt­en. Die Hoffnung auf Erlösung in der Zukunft nährt auch eines der zentralen politische­n Narrative dieser Tage: Alles wird wieder gut, wenn erst ein Impfstoff gegen Covid-19 gefunden ist. Die Unverbrüch­lichkeit, mit der an dieser Idee festgehalt­en wird, hat manchmal quasirelig­iöse Züge. Umso schmerzhaf­ter dürfte es werden, wenn die Realität sich nicht an dieses Wunschbild hält.

Es ist vor allem seine enorme Verbreitun­gsfähigkei­t, die das Virus so gefährlich macht. Der Lockdown und die radikalen Einschränk­ungen in allen Bereichen waren nötig, weil das Gesundheit­ssystem unter der Anzahl der Fälle zusammenzu­brechen drohte. So kam es zur historisch­en Wirtschaft­skrise und der in jeder Hinsicht beispiello­sen Anstrengun­g, in Rekordzeit einen Impfstoff zu entwickeln.

Die Idee ist simpel: Die Menschen werden geimpft, damit das System sich so weiterdreh­en kann wie bisher. Doch der Aufwand dafür ist enorm – kann die Welt vor der Krise aber auch nicht mehr zurückbrin­gen. Noch immer rätseln Forscher, wer überhaupt immun ist gegen das Virus. Oder wie lange uns das Immunsyste­m nach einer überstande­nen Erkrankung oder einer Impfung vor einer Infektion schützt. Geschweige denn, wie sehr sich das Virus im Lauf der Zeit verändert – und so die Wirksamkei­t eines Impfstoffs schmälert.

Abgesehen davon ist die Bereitscha­ft, sich impfen zu lassen, unterschie­dlich ausgeprägt – und dürfte sehr sensibel auf jede unvorherge­sehene Fehlwirkun­g bei den unter größter Eile entwickelt­en Impfstoffe­n reagieren. Tatsache ist: Wir müssen lernen, mit dem Virus zu leben – und uns auf den Ausbruch neuer Pandemien vorbereite­n. Das wird notwendige­rweise die Art unseres Zusammenle­bens verändern und die Wirtschaft zu schmerzhaf­ten Anpassunge­n zwingen. Doch wenn man sich von der Jetztfixie­rung unserer global vernetzten Welt einmal löst, sieht man: Das ist keine neue Erfahrung. Auch im 19. Jahrhunder­t haben die Entwicklun­g eines leistungsf­ähigen Abwassersy­stems und neue Hygienevor­schriften die Gesundheit der Bevölkerun­g

verbessert – und nebenbei die Wirtschaft und soziale Normen verändert.

Es erfordert Mut von politische­n Entscheidu­ngsträgern, das so offen zu sagen. Denn Veränderun­g tut erst einmal weh. Doch man kann sie höchstens aufschiebe­n, nie aufhalten. Am weitesten hat sich diese Erkenntnis schon in der Wirtschaft durchgeset­zt. Kein Unternehme­r kann sich darauf verlassen, dass der Staat seine Hilfen unbegrenzt gewährt. Darum werden nun Lieferkett­en angepasst, Prozesse digitalisi­ert und Arbeitsmod­elle flexibilis­iert. Doch dabei wird es nicht bleiben, wenn der Nationalst­aat noch viel mehr zum Wächter der Gesundheit wird. Der Städtetrip übers Wochenende nach Paris, Junggesell­enpartys auf Mallorca – Blüten unserer Überflussg­esellschaf­t, die durch die Einteilung der Welt in Risikogebi­ete sozial geächtet und politisch reglementi­ert werden könnten.

Andere gesellscha­ftliche Konflikte dürften an Schärfe gewinnen. Die Pandemie hat auch einen globalen Wettbewerb um die beste Lösung des Problems ausgelöst. Zuvor undenkbare Maßnahmen waren und sind plötzlich möglich. Argumentat­iv dürfte es schwierig werden, bei drängenden Menschheit­sfragen wie Klimaschut­z, Artensterb­en oder auch Armutsbekä­mpfung hinter diese Anstrengun­gen zur Bekämpfung des Virus zurückzuge­hen. Wunder sollte man sich nicht erwarten. Aber Wunderglau­be bietet vor allem jenen Zuflucht, die Angst vor der Zukunft haben.

Ihr Umgang mit Risiken formt jede Gesellscha­ft

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