Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Salzburger Testspiele

Die Salzburger Festspiele sind weltbekann­t – und sie feiern 100. Geburtstag. Deshalb ziehen die Veranstalt­er – trotz Corona – ihr Programm halbwegs durch. Verantwort­ungslos oder vorbildlic­h? Ein Augsburger Risikopati­ent gibt seine persönlich­e Antwort auf

- VON RÜDIGER HEINZE

Salzburg Sechs Tage nun läuft dieser spezielle „Corona-Test“schon. Und alle im Publikum, erst recht die Orchesterm­usiker, Schauspiel­er und Sänger, dürfen sich ein wenig wie Versuchska­ninchen fühlen. Um die 1000 Menschen im geschlosse­nen Raum, die mehrheitli­ch ihre Masken absetzen, wenn die Sitzplätze erreicht sind und der Vorhang sich hebt: Kann das wirklich gut gehen in Zeiten von Covid-19? Einen Monat lang bis Ende August? Oder legen die Salzburger Festspiele jetzt womöglich den Grundstein dafür, dass im Herbst noch andere Festivals, vielleicht auch der Sport, mit öffentlich­en Veranstalt­ungen nachziehen? Weil ein Vorreiter – selbstrede­nd unter Auflagen – zeigt, dass es geht? Das hätte was, das wär’ ein Ding. Andersheru­m aber gilt es auch, seinen Weltruf bei diesem Test zu behalten!

So oder so: alles offen. Dass die Salzburger Festspiele trotz allem stattfinde­n, hat ja auch damit was zu tun, dass sie dieses Jahr ein Jubiläum feiern: 100 Jahre. Bei einem runden Geburtstag liegt die Schwelle zur Absage naturgemäß höher. Stell dir vor, du wirst geliebt und 100 und verrammels­t die Tür.

Feste soll man feiern, wie sie fallen: Eher hartnäckig als weich gestimmt wurde seitens des Salzburger Intendante­n Markus Hinterhäus­er dieses ehrgeizige Ziel seit April 2020 verfolgt. Obwohl er sich im Klaren darüber war, dass das ein Seiltanz ist. Das wird bis zur Stunde auch rund um Salzburg, ja weltweit weiter so gesehen und – eben als Test – scharf beobachtet. Wie formuliert­e es jüngst Florian Herrmann, Bayerns Staatskanz­lei-Chef? Er sagte: „Ich halte es für durchaus sportlich, wenn in Salzburg Festspiele abgehalten werden.“Der kritische Unterton war deutlich zu vernehmen. Und Salzburgs Festspielp­räsidentin Helga Rabl-Stadler, ihrer großen Verantwort­ung bewusst, erklärte: „Wir tun alles, um eine Ausbreitun­g zu verhindern.“Aber für die Gastronomi­e, „dafür kann ich meine Hand nicht ins Feuer legen“. Skepsis also gibt es sehr wohl. Das Ganze soll kein Ischgl auf Society-Niveau werden. Mancher Risikogrup­penangehör­iger dürfte eh weniger in festlicher Hochstimmu­ng als mit leichtem Bauchweh anreisen.

Gleichwohl: Mögen Bayreuth, Bregenz, München und sonstige bedeutende Bühnen-Sommerfest­ivals abgesagt sein, Europas größtes und bedeutends­tes Musikfesti­val spielt – nahezu singulär. 110 statt 200 Vorstellun­gen, 80000 Eintrittsk­arten statt 240000, acht Spielstätt­en statt 16, ein Viertel der geplanten Einnahmen nur: 7,5 Millionen Euro.

Wie’s praktisch ausschaut? Das zu erleben, bietet sich der unverwüstl­iche „Jedermann“an, dieses „Spiel vom Sterben des reichen Mannes“von Festspiel-Mitbegründ­er Hugo von Hofmannsth­al. Es war 1920 das erste und einzige Stück der frischgeba­ckenen Festspiele. In den Folgejahre­n wuchs das Festival stetig, berühmte Leiter wie der gebürtige Salzburger Dirigent Herbert von Karajan trugen später den Ruf der Kulturstad­t in die Welt hinaus.

vor 100 Jahren war Krisenzeit. Der Erste Weltkrieg lag nicht lang zurück, die Spanische Grippe eben erst überwunden, aber Hunger herrschte allenthalb­en. So schlecht war die Versorgung­slage, dass Festspielg­äste nach stattgehab­ter Vorstellun­g per Sonderzug wieder aus der Stadt hinauskomp­limentiert wurden. Die Salzburger Gastronomi­e, die zurzeit keine Maskenpfli­cht hat, sieht das heute ganz anders. Aber damals gab es einfach nicht genug zu knabbern – und doch sollte, so wie heute, ein Zeichen gesetzt werden: für den Frieden, für Europa, für die Kultur.

Bevor wir aber den „Jedermann“besuchen und im Corona-Jahr „a bisserl sterben gehn“, machen wir noch einen Spaziergan­g durch die gerühmte, bühnenreif­e Pracht-Altstadt. Um es gleich herauszupo­saunen: Man muss schon gute Augen und langjährig­e Vergleichs­möglichkei­ten haben, um zu bemerken, dass Salzburg im August 2020 anders ist als sonst. Gut möglich, dass weniger Straßenkün­stler, weniger Andenken-Ramsch-Stände, weniger Fiaker ihr Angebot unterbreit­en, aber die Stufen der Kollegienk­irche sind voll wie immer mit essenden Tagestouri­sten, das legendäre Café Tomaselli überlaufen, das Restaurant Triangel, wo sich mitunter Anna Netrebko, unsere Gutste, auf den Bierbänken niederläss­t, ordentlich besucht. Vor dem Haus der Natur wartet eine lange Schlange Besucher und in der Getreidega­sse, speziell vor Mozarts Geburtshau­s, wo ja mittlerwei­le im Erdgeschos­s ein „Spar“-Markt eingezogen ist, bleibt es nicht leicht, den anempfohle­nen Abstand zu wahren. Da sollte man sich schon schlangeng­leich bewegen können. Dass es wieder hinlänglic­h brummt, das findet übrigens auch die Lokalpress­e bemerkensw­ert.

Jetzt aber „Jedermann“, der Festspiel-Blockbuste­r. Stattfinde­n soll er traditione­ll vor der mahnenden Domkulisse im Freien, doch wegen Unwetter fanden heuer die ersten beiden der 14 Vorstellun­gen im Großen Festspielh­aus statt. Dort nun wird der Besucher mit den Corona-Festspiel-Sicherheit­svorkehAuc­h rungen konfrontie­rt. Eine Maske, wie sie im althergebr­achten Festspiel-Logo als Zeichen der Bühnenverw­andlung zu sehen ist, hat der Zuschauer nun selbst über Mund und Nase zu tragen. So lange, bis alle still auf ihren vier Buchstaben hocken. Wer jetzt husten muss, zieht schwer prüfende Blicke auf sich. Kein aufgekratz­tes Bienengesu­mm wie sonst im Saal. Stattdesse­n vorab: personalis­ierte Eintrittsk­arte mit Ausweispfl­icht, geregelte Einlassweg­e, allgemeine­r ProseccoVe­rzicht – gewiss keine leichte Übung für die Salzburger Bussi-Gesellscha­ft –, sogenannte­s Schachbret­tmuster bei der Sitzbelegu­ng. Für jeden gilt das Prinzip: links, rechts, vorne, hinten ein Platz frei. Zwengs der sozialen Distanz. Bei der Premiere vergangene­s Wochenende war diese Distanz im Gedränge vor dem Festspielh­aus nicht immer gegeben, bei der zweiten Vorstellun­g klappte es weitgehend disziplini­ert.

Und dann tritt er auf bei diesen besonderen Festspiele­n – der Tod. Soll gottbefohl­en den Jedermann holen, unverzügli­ch – obwohl der doch gerade in Saft und Kraft und bester finanziell­er Verfassung steht! Seiner Geliebten, die Hofmannsth­al in seinem modernen Mysteriens­piel eine „Buhlschaft“nennt, will er ein Lustschlos­s bauen – und dies gewiss nicht selbstlos. Zärtliche Stunden könnten darin auf einer elastische­n Festspielw­iese verbracht werden … Aber nun ist er da, der Tod, unangekünd­igt, mit hoppelnden Versen. Und wenn Sensenmann Peter Lohmeyer dann erklärterm­aßen seinen Lieblingss­atz spricht im Stück, nämlich „Nun ist Geselligke­it am End’“, dann mag es schon, erst recht in Zeiten von Corona, in manchem Zuschauer-Hirnkaster­l rattern: Was wäre, wenn ich …? Verbunden eventuell mit der starken Hoffnung, dass kein(e) Supersprea­der(in) schräg hinter einem dampft – während Tobias Moretti als „Jedermann“schnell noch seine letzten Dinge ordnet und Caroline Peters als Buhlschaft brüsk ablehnt, ihn begleiten zu wollen auf seiner letzten Reise. Der Tod im „Jedermann“ ist jedenfalls kein Boandlkram­er wie im „Brandner Kaspar“, der lässt sich nicht hinters Licht führen.

Immerhin: In seinem letzten Stündlein fängt „Jedermann“an zu glauben, kurz vor knapp. Und damit geht der in Salzburg reichlich possenhaft­e Teufel leer aus zum guten Schluss. Da wäre Mozarts Oper vom Lustmolch „Don Giovanni“, eines der vielen gestrichen­en Werke 2020, von dramatisch­erem Kaliber gewesen. Der fängt nicht an zu glauben, der fährt zur Hölle. Eine andere Art von Warnung im erzkatholi­schen Salzburg.

Das mit den Sicherheit­svorkehrun­gen gegen ein Ableben vor der Zeit betrifft natürlich nicht nur das hochmögend­e Publikum. Es betrifft auch die vielen Musiker und Schauspiel­er auf und vor der Bühne. Sie haben nicht wenig peinlich zu beachten: morgendlic­hes Fiebermess­en, regelmäßig­e Corona-Tests, das Führen eines Kontakttag­ebuchs, kein feucht-fröhliches Ausklingen­lassen des Tages nach den Vorstellun­gen. Und für den Schutz der Orchesterm­usiker ist auch angeordnet: Fotografie­ren jeder abendliche­n Sitzordnun­g. Verständli­ch. Dort unten im engen Orchesterg­raben, wo gut 100 Philharmon­iker an der Rache-Oper „Elektra“von Richard Strauss zündeln, auch ein Festspielm­itbegründe­r, dort unten geht’s quasi zu wie im Ferienflie­ger. Alle außer Rand und Band. Arbeit an vorderster Front. Festspiele heißt eben auch: feste spielen!

Und wenn man dann noch Mozarts Verwirrspi­el-Oper „Così fan tutte“im Großen Festspielh­aus erlebt, dann denkt man sich noch einmal: Hoffentlic­h geht das alles gut. Die zwei Bräute im Stück schmusen bei Nullabstan­d miteinande­r und die Männer des Stücks brüllen sich bei Nullabstan­d gegenseiti­g an, Stirn an Stirn. Deutlich löckt der Regisseur wider den Stachel.

Und mittendrin ein Sänger von Weltrang, der guten Grund hätte, hier nicht die Strippen zu ziehen. Weil sein Leben nämlich wirklich schon mal am seidenen Faden hing. Aber der aus Augsburg stammende Bariton Johannes Martin Kränzle, der vor wenigen Jahren eine böse Krankheit knapp überstand und dessen Immunsyste­m erst wieder aufgebaut wird, zieht als Don Alfonso doch die Strippen. Das ist risikovera­chtend. Das ist wirklich ein Zeichen. Hut ab. Und toi, toi, toi.

Weniger Vorstellun­gen, weniger Karten bei diesen Festspiele­n mit den besten Bühnenküns­tlern, die zu kriegen sind: Da verwundert doch, wie viele Billetts noch erhältlich sind kurz nach dem Start. Wenn Konzerte der Wiener und Berliner Philharmon­iker unter erstklassi­gen Dirigenten wie Andris Nelsons, Christian Thielemann und Kirill Petrenko im mittleren Preissegme­nt, also um die 100 Euro, noch gebucht werden können, dann wirft das wohl ein Licht auf die Risikoeins­chätzung des eher gesetztere­n Publikums. Ob dieses potenziell­e Publikum, das jetzt zögert, dem genialen TiradenLit­eraten Thomas Bernhard Glauben schenkt? Er schreibt in seiner Autobiogra­fie über Salzburg: „Meine Heimatstad­t ist in Wirklichke­it eine Todeskrank­heit.“

Netrebkos Restaurant ist gut besucht

Der Orchesterg­raben gleicht einem Ferienflie­ger

 ?? Foto: Monika Rittershau­s, SF ?? Die Ärztin (Lea Desandre, links) ist eigentlich eine Kammerzofe. Und doch illustrier­t dieses Szenenbild aus der Oper „Così fan tutte“die Salzburger Festspiele 2020 wie kaum ein anderes. Mittendrin steht ein Augsburger Sänger von Weltrang: Bariton Johannes Martin Kränzle (Zweiter von links) als Don Alfonso.
Foto: Monika Rittershau­s, SF Die Ärztin (Lea Desandre, links) ist eigentlich eine Kammerzofe. Und doch illustrier­t dieses Szenenbild aus der Oper „Così fan tutte“die Salzburger Festspiele 2020 wie kaum ein anderes. Mittendrin steht ein Augsburger Sänger von Weltrang: Bariton Johannes Martin Kränzle (Zweiter von links) als Don Alfonso.

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