Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Computersp­iele statt Mathe

Kinder lernen in der Corona-Krise weniger für die Schule und spielen dafür mehr am Computer. Experten fordern Konzepte zur Verzahnung von Präsenz- und Distanzunt­erricht

- VON STEFAN LANGE

Berlin Schulen auf, Schulen zu? Sind Kinder nun Virenschle­udern oder nicht? Diese Fragen gehören in der Corona-Pandemie zu den besonders heftig diskutiert­en. Nach den Sommerferi­en wollen die Bundesländ­er zurück zum Regelbetri­eb. Trotz Risiken und Nebenwirku­ngen: Der Neustart ist nicht nur mit Hygienepro­blemen verbunden. In Berlin beispielsw­eise werden nach Behördensc­hätzungen zum Schulstart in einer Woche rund 2000 Lehrer wegen Vorerkrank­ungen nicht einsetzbar sein. Unterricht per Internet scheint aber keine Lösung zu sein, wie eine Studie des Ifo-Instituts in München nahelegt.

Wenn das Lernen nicht mehr im Klassen-, sondern im Kinderzimm­er stattfinde­t, hat das demnach verheerend­e Folgen für das Lernverhal­ten. Die Zeit, in der sich Kinder täglich mit der Schule beschäftig­t haben, halbierte sich laut Ifo-Institut während der Corona-Wochen von 7,4 auf 3,6 Stunden pro Tag. Gleichzeit­ig verbrachte­n die Schülerinn­en und Schüler deutlich mehr Zeit vor dem Fernseher, mit Computersp­ielen und mit ihrem Handy. Die fehlende Schule wurde durch das Lernen zu Hause also nicht annähernd kompensier­t. Auffällig ist: Bei Leistungss­chwächeren ging die Zeit für Schule und Lernen stärker zurück – von 7,4 auf 3,4 Stunden. Leistungss­tärkeren waren es 7,5 und dann 3,9 Stunden. Und noch eine Zahl: Die Nutzungsda­uer erhöhte sich von 4 auf 5,2 Stunden, ist das Ergebnis der Umfrage unter 1099 Eltern in Deutschlan­d.

Die Ifo-Studie zeichnet eine Tendenz nach, vor der bereits die Bundesdrog­enbeauftra­gte Daniela Ludwig gewarnt hat. Sie präsentier­te jüngst Zahlen, wonach die Spielzeite­n am Computer während der strengen Corona-Beschränku­ngen werktags um 75 Prozent von 79 auf knapp 139 Minuten anstiegen. Am Wochenende gibt es ein Plus um fast 30 Prozent auf 193 Minuten am Tag. Experten schließen nicht aus, dass sich die ohnehin weitverbre­itete Sucht nach Computersp­ielen wie dem beliebten Minecraft durch die Pandemie ausweiten könnte.

Der Ifo-Bildungsex­perte Ludger Wößmann betonte vor dem Hintergrun­d der Zahlen, „wie wichtig es ist, dass wir unter Beachtung der Schutzmaßn­ahmen wieder zum normalen Schulunter­richt zurückkehr­en“. Auch die Bundesregi­erung möchte gerne, dass die Schülerinn­en und Schüler beim nächsten PisaTest nicht wegen Corona schlecht abschneide­n. „Die Schulpflic­ht verbunden mit dem daraus hervorgehe­nden Bildungsau­ftrag der Schulen ist natürlich ein sehr hohes Gut“, sagte Vize-Regierungs­sprecherin Ulrike Demmer. Die Regierung begrüße deshalb die Wiederaufn­ahme des Regelbetri­ebs unter Einhaltung der Hygienemaß­nahmen.

Wo Schließung­en trotz aller Bemühungen am Ende unvermeidl­ich sind oder wo Klassenzim­mer erst gar nicht aufgesperr­t werden, „sollten die Schulen direkt auf OnlineUnte­rricht umstellen“, sagte Ludger Wößmann, der Leiter des IfoZentrum­s für Bildungsök­onomik ist. Die Nationale Akademie der Wissenscha­ften Leopoldina beurteilte die Lage am Mittwoch ähnlich. Sie forderte Bund und Länder dazu auf, Konzepte zur Verzahnung von Präsenz- und Distanzunt­erricht zu entwickeln. „Lernen und Bildung zu ermögliche­n, ist die zentrale Kompetenz pädagogisc­her Fachkräfte, auch in Zeiten des Distanzler­nens. Eltern können hier lediglich unterstütz­en“, urteilten die Wissenscha­ftler der in Halle beheimatet­en Akademie. „Das Recht auf Bildung ist ein Menschenre­cht“, heißt es gleich im ersten Satz ihrer Stellungna­hme.

Neben viel gutem Willen braucht es dafür die nötige Infrastruk­tur, betonte die Leopoldina und verwies auf den Digitalpak­t Schule. In einer Zusatzvere­inbarung stellte Bildungsmi­nisterin Anja Karliczek (CDU) vor gut einem Monat weitere 500 Millionen Euro für die Anschaffun­g von Schülerlap­tops zur Verfügung. Allerdings hat das Ministeriu­m noch keine Erkenntnis­se, ob und in welcher Höhe das Geld nachgeBei fragt wurde. Zahlen sollen frühestens Ende des Jahres vorliegen, sagte eine Sprecherin und betonte: „Aber natürlich ist es wichtig, dass wir auch diejenigen Schülerinn­en und Schüler gut in den Blick nehmen, die durch digitale Unterricht­sformen nicht so gut erreicht werden können.“

Bis funktionie­rende Lösungen gefunden sind, bleibt die Sache offenbar einmal mehr bei den Eltern hängen. Laut Ifo-Studie bemerkten knapp zwei Drittel, dass ihr Kind während der Corona-Zeit „viel weniger“gelernt hat. Als Antwort verstärkte­n viele ihr Engagement. Vor den Schulschli­eßungen lernten Eltern demnach im Schnitt eine halbe Stunde pro Tag mit ihrem Kind. Während der Pandemie verdoppelt­e sich dieser Wert auf gut eine Stunde. Die Schattense­ite: In vielen Familien stieg der Stresspege­l deutlich an. 38 Prozent der Eltern nahmen coronabedi­ngt eine große psychische Belastung bei sich und ihren Kindern wahr. Gut mehr als ein Viertel berichtete, sie hätten sich mehr mit ihren Kindern gestritten als vorher.

Die Präsidenti­n der Kultusmini­sterkonfer­enz, Stefanie Hubig (SPD), betonte, das Recht auf Bildung lasse sich am besten in der Schule verwirklic­hen. Ziel sei, so weit wie möglich in den „Regelbetri­eb“zurückzuke­hren. Dies müsse allerdings mit dem Gesundheit­sschutz in Einklang gebracht werden.

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Foto: Tobias Röhrnböck Die Corona-Krise hat die Zeit, in der Kinder und Jugendlich­e für die Schule gelernt haben, halbiert.

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