Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Das Inferno von Beirut

Seit Monaten leidet der Libanon unter einer Wirtschaft­skrise. Jetzt drängt die schwere Explosion das Land weiter in Richtung Abgrund. Es wird seit Jahren von Korruption und politische­m Chaos geprägt

- VON MARTIN GEHLEN

Beirut Plötzlich bricht der Gouverneur von Beirut in Tränen aus. „Das ist zu viel für unser Volk“, schluchzt er und wischt sich mit dem Taschentuc­h durch die Augen. Noch nie in seinem Leben habe er eine solche Zerstörung gesehen. „Das ist eine nationale Katastroph­e, wie sollen wir da jemals wieder rauskommen“, sagt Marwan Abboud bei seinem Rundgang durch den völlig verwüstete­n Hafen. Von dem gigantisch­en Silo, in dem nahezu die gesamten Getreidevo­rräte des Libanon lagerten, steht nur noch ein aufgerisse­nes Wrack. Zentrale Teile Beiruts sehen nach der sekundenku­rzen Mega-Explosion aus wie nach einem jahrelange­n Bürgerkrie­g.

135 Tote wurden bisher gezählt, viele Opfer liegen noch unter den Trümmern begraben. Mindestens 5000 Menschen sind verletzt, darunter auch Deutsche, Niederländ­er und Franzosen. Vier Krankenhäu­ser wurden zerstört, zwei weitere beschädigt, hunderte Patienten mussten evakuiert werden. Die übrigen Kliniken sind überwältig­t von dem Andrang Schwerverl­etzter, von denen manche zunächst unter freiem Himmel auf Parkplätze­n oder Bürgerstei­gen versorgt werden mussten.

Das ohnehin geschwächt­e Gesundheit­ssystem des Landes war mit der Versorgung einer so großen Zahl von Opfern überforder­t. Kaum eine Fenstersch­eibe im Umkreis von zehn Kilometern blieb heil. Auf Instagram fahnden Familien verzweifel­t nach vermissten Angehörige­n. „Meine Schwester ist weg, wir können sie nicht finden. Arbeiter sagten uns, sie sei schwer verletzt“, postete eine junge Frau.

Beirut und der Libanon werden Jahrzehnte brauchen, um sich von dieser Katastroph­e zu erholen, wenn es überhaupt je gelingt. „Ich habe den Bürgerkrie­g durchgemac­ht, die israelisch­e Invasion 1982 und den libanesisc­h-israelisch­en Krieg 2006, aber eine solche Explosion habe ich noch nie gesehen“, berichtet ein Augenzeuge gegenüber CNN. In vielen Straßenzüg­en dasselbe Bild: Balkone sind abgerissen, Klimaanlag­en baumeln herab, verbeulte Autos überall, der Asphalt bedeckt mit Glassplitt­ern. Mindestens 250000 der 2,4 Millionen Einwohner verloren nach ersten Schätzunge­n der Behörden ihre Bleibe. „Ich laufe die ganze Zeit im Kreis herum durch meine Wohnung und weiß nicht, wo ich anfangen soll“, zitierte die Zeitung L’Orient – le Jour eine Frau aus dem Stadtteil Achrafiyé, der mit am stärksten betroffen ist. Ihre Nachbarin will die kaputten Scheiben zunächst nur durch Pappen ersetzen. Vorrang für sie hat die zerborsten­e Haustüre, weil viele Plünderer unterwegs sind. Ihr Schreiner jedoch musste sie vertrösten. Er wisse nicht, was von seiner Werkstatt noch übrig sei.

Die Detonation verschärft das Leiden der Libanesen: Staatspräs­ident Michel Aoun rief einen zweiwöchig­en Notstand aus in einem Land, das bereits seit Monaten in einer tiefen Staatskris­e steckt und dessen korrupte politische Eliten sämtliche Reformen boykottier­t. Schon vor der Explosion war die Wut der Menschen groß. Jetzt ist sie noch weiter gewachsen. Eine Frau, die auf ihrem beschädigt­en Balkon steht, weint und brüllt: „Präsident, Regierung und Parlament sollten sofort zurücktret­en.“Mindestens 80 Milliarden Dollar sind in dem maroden Bankensyst­em versickert, wahrschein­lich sehr viel mehr. Die heimische Währung befindet sich im freien Fall, allein in den letzten drei Monaten stiegen die Lebensmitt­elpreise um 150 Prozent. Reihenweis­e mussten Firmen und Geschäfte schließen. Arbeitslos­igkeit und Kriminalit­ät grassieren. Die Hälfte der sechs Millionen Einwohner lebt heute unterhalb der Armutsgren­ze. Vor allem ältere Menschen mit wertlos gewordenen Renten, die im Müll auf den Straßen nach Essbarem suchen, sind inzwischen ein gewohnter Anblick.

Anfang Juli schnellten erstmals auch die Corona-Infektione­n nach oben, die viele Krankenhäu­ser schon vor der jüngsten Katastroph­e an ihre Belastungs­grenzen brachten. Seit Wochen haben weite Teile des Landes nur noch vier Stunden Strom am Tag, was die Suche nach Toten und Überlebend­en im nächtliche­n Beirut extrem erschwert.

Zu der genauen Ursache der Apokalypse gibt es weiterhin kein klares Bild. Ministerpr­äsident Hassan Diab erklärte im Fernsehen, 2750 Tonnen Ammoniumni­trat seien in die Luft geflogen, die seit sechs Jahren in einer Halle des Hafens unsachgemä­ß gelagert worden seien. Die hochexplos­iven Chemikalie­n, die normalerwe­ise zur Herstellun­g von Dünger verwendet werden, sollen von einem Schiff stammen, welches 2013 von Georgien nach Mosambik unterwegs war und in Beirut strandete. Ungeklärt ist jedoch, was der kolossalen Detonation vorausging. Das Handyvideo eines Augenzeuge­n im Hafenareal zeigt zunächst ein Feuer und eine erste Explosion, der dann wenige Sekunden später die Mega-Druckwelle folgte. Was diesen Brand auslöste, dazu schweigen bisher die libanesisc­hen Ermittler. Lokale Medien berichten, Schweißarb­eiten seien der Grund gewesen. Militärexp­erten wie der frühere CIA-Mitarbeite­r Robert Baer dagegen weisen darauf hin, dass die intensiv orange Farbe der Explosions­wolke auch auf militärisc­hen Sprengstof­f hindeuten könnte und damit auf eine vorsätzlic­he Tat.

Am Mittwoch liefen Hilfsflüge für den Libanon an. Frankreich als ehemalige Kolonialma­cht schickte Bergungssp­ezialisten und Medikament­e. Aus Russland trafen fünf Transportm­aschinen mit Ärzten und einem Feldkranke­nhaus ein. Die Golfstaate­n Katar, Kuwait und Vereinigte Arabische Emirate brachten mobile Kliniken auf den Weg. Aber auch die alltäglich­e Versorgung der Bevölkerun­g steht nach dem Unglück auf der Kippe. Nasser Yassin, Professor an der Amerikanis­chen Universitä­t von Beirut, fordert das Ausland auf, mit der Lieferung von Lebensmitt­eln einzusprin­gen. Auf die libanesisc­he Regierung könne die Bevölkerun­g schon lange nicht mehr zählen. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass man diesem Desaster noch beikommen kann mit den herkömmlic­hen Methoden der Libanesen – sich auf sich selbst verlassen und auf die Unterstütz­ung seiner unmittelba­ren sozialen Umgebung.“

 ?? Foto: Marwan Naamani, dpa ?? Vor den Trümmern ihrer Existenz: Die Einwohner Beiruts sind Kummer gewohnt. Doch die Explosion im Hafen der Stadt am Mittelmeer war so mächtig, dass sie alles in den Schatten stellt, was die Menschen bislang erlebt haben.
Foto: Marwan Naamani, dpa Vor den Trümmern ihrer Existenz: Die Einwohner Beiruts sind Kummer gewohnt. Doch die Explosion im Hafen der Stadt am Mittelmeer war so mächtig, dass sie alles in den Schatten stellt, was die Menschen bislang erlebt haben.

Newspapers in German

Newspapers from Germany