Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Der typische Pferseer ist ein Zugereiste­r

Unsere mobilen Schreibtis­che bauen wir für „Kultur aus Pfersee“erstmals vor Herz Jesu auf. Wir waren unsicher, was uns erwartet. Die Zweifel verfliegen schnell. Alte Bekannte sagen „Hallo“, pralle Ordner werden nachgeholt, und der Pfarrer kommt fast zu sp

- VON MICHAEL SCHREINER UND RICHARD MAYR

Es dauert keine zehn Minuten, dann sind wir drin im Pfersee-Modus. Bernhard Kammerer von der Bürgerakti­on – er ist das Gedächtnis und der Anwalt des Stadtteils – beugt sich mit Wilfried Matzke vom Geodatenam­t über den Stadtplan, der Pfersee im Jahr 1920 zeigt. Wo war noch mal „Raff und Söhne“? Ah, da. In der Fabrik gab’s 1903 einen Streik der Arbeiter – „hat aber nichts gebracht“, sagt Kammerer. Übrigens: Auffallend viele grüne Flecken mit der Inschrift „Mietgärten“sind auf dem alten Plan zu sehen. „Die Wohnsituat­ion war bedrückend, eine Katastroph­e. Da brauchten die Leute einen Ausgleich“, sagt Kammerer.

Die Themen wechseln schnell an unseren mobilen Schreibtis­chen, die wir zum Auftakt unserer Serie „Kultur aus Pfersee“an diesem späten Dienstagna­chmittag zum ersten Mal im Schatten der Herz-Jesu Kirche aufgebaut haben. Es ist feuchtkalt, aber das Wetter hält Besucher ebenso wenig ab wie Corona-Angst. Hätte ja sein können… Noch nie, seit wir unsere Schreibtis­che im Sommer draußen in einem Stadtteil aufstellen, waren wir so unsicher, was uns erwarten wird wie diesmal, im sechsten Jahr – in Pfersee eben. Doch die Zweifel verfliegen schnell.

Wir reden über die jüdische Vergangenh­eit Pfersees, das einmal eine Sonntagssc­hule und eine Synagoge beherbergt­e. Die existiert aber seit dem 19. Jahrhunder­t nicht mehr. Es gibt auch kein Bild davon, obwohl die Fotografie damals schon in der Welt war. Pfersee, 1911 nach Augsburg eingemeind­et, gehörte 500 Jahre lang, bis 1805, zu Österreich. Wie war das eigentlich mit der Wertach, die Pfersee ja von Augsburg trennt? Auf einem alten Stich sieht man den Fluss mäandernd und in schönen Schleifen. Hochwasser war alltäglich, nach Augsburg ging es via Oberhausen rüber. Bernhard Kammerer erinnert daran, dass der Ausbau der Luitpoldbr­ücke, die heute Pfersee mit Augsburg verbindet, Verhandlun­gsgegensta­nd bei der Eingemeind­ung 1911 war. Während Bernhard Kammerer eben nach Hause springt, um seine Ordner zu holen („ohne die geht’s jetzt doch nicht mehr“), nimmt Franz Götz am Schreibtis­ch Platz. Der Stadtpfarr­er ist sozusagen der Hausherr hier, und er ist unter freiem Himmel auf dem Vorplatz von Herz Jesu so in die Gespräche vertieft, dass er fast zu spät hinein huscht in die Sakristei für die Messe um 18.30 Uhr. Götz ist ein besonnener Mann, sich freut, wenn der Platz vor seiner Kirche als Teil des Stadtteill­ebens angenommen wird. Hier steht der Maibaum, hier steht der Pferseer Christbaum – und jetzt eben unsere Schreibtis­che.

Die Jugendstil-Kirche Herz Jesu, ein Baujuwel, entstand in der Hochphase der Industrial­isierung Pfersees und wurde ein Jahr vor der Eingemeind­ung nach Augsburg fertig. Wie auf ein Stichwort ist Bernhard Kammerer zurück mit einer kiloschwer­en Tasche, darin drei gelbe Aktenordne­r voller Bilder. Er zeigt eines mit rauchenden Schloten und Kaminen am Horizont. Das „Bauerndorf“Pfersee war um die Jahrhunder­twende längst von großen Fabriken umgeprägt. Die vielen Arbeiter, die zuzogen, beteiligte­n sich mit Spenden am Bau von Herz Jesu – ein Projekt, das man dem erst 29-jährigen Baumeister Michael Kurz anvertraut hatte. Franz Götz bewundert „den Mut, so etwas zu wagen“.

Aber er bewundert auch die einfachen Gläubigen und ihren Beitrag. „Wir haben zum Beispiel eine Spendenqui­ttung im Archiv, die belegt, wie eine einfache Weberin zwei Tagelöhne ihres Monatsgeha­lts für den Kirchenbau gegeben hat. Das war großartig, dass Herz Jesu ein solches Gemeinscha­ftsprojekt war.“Wie ein einfacher Dorfpfarre­r damals im Jugendstil, der ja damals ein „säkularer Stil“war, ein modernes theologisc­hes Konzept realisiere­n ließ – das nötigt dem Stadtpfarr­er Respekt ab. Niemand widerspric­ht in der Runde seiner Einschätzu­ng, dass die Kirche „ein Glücksfall für Pfersee“ist.

Mehrfach fällt an diesem ersten

Dienstag der Satz: „Der typische Pferseer ist ein Zugereiste­r“. Das stimmt wohl. Es trifft auf Jürgen Hillesheim zu, den Leiter der Brecht-Forschungs­stelle, der wie „Baal“in der Metzstraße wohnt und uns auf dem Weg vom Einkaufen zufällig vor Herz Jesu entdeckt. Es trifft auf Gerald Fiebig zu, den Leiter des Kulturhaus­es Abraxas. Er bringt ein paar Schokorieg­el vorbei und erzählt am Schreibtis­ch, dass er seit 2011 hier wohnt und „mit großer Leidenscha­ft Pferseer ist“. Seine Frau Tine Klink, eine Malerin, führt um die Ecke den „Kreativrau­m“, der so eine Art Mini-Kulturzent­rum in Pfersee ist. Tine Klink, die uns ihre Räume später zeigt, ist ebenso wie Fiebig Mitglied in der Bürgerakti­on Pfersee, die seit Jahrzehnte­n kreativ und energisch für den Stadtteil kämpft.

Moment, dieses Gesicht kennen wir doch auch? Wie war noch der Name? Reisinger, Monika, Kriegshabe­r, Reinöhlstr­aße, ja, wir haben sie nicht vergessen, das Gedächtnis funktionie­rt noch. Monika Reisinger hat uns auch vergangene­s Jahr in Oberhausen und zuvor in Kriegshabe­r besucht. Sie kommt aber nicht nur zum Zeitvertre­ib, sie hat auch eine Frage. „Cousins und Cousinen meines Manns kommen aus Pfersee.“Besser, haben ein paar Jahre in Pfersee gelebt in den 1950ern, bevor sie in die USA ausgewande­rt sind. Auf Heimat-Besuch waren sie natürlich auch mal in der Zwischenze­it, aber kürzlich sei der Wunsch an sie herangetra­gen worden, ob sie nicht herausfind­en könne, ob sich noch jemand in Pfersee an Anna, Magdalena, Hans, Frank und Ernst Petruska erinnere. Wir können dieder se Frage natürlich nicht beantworte­n, geben sie aber an dieser Stelle einfach einmal weiter an unsere Leser in Pfersee.

Den Herren mit dem hintergrün­digen Humor und dem gepflegten Schwäbisch, der sich dann nähert, kennen wir auch schon länger: Gustl Mayer – Musiker, Maler, MundartPoe­t und immer auch Geschäftsm­ann in eigener Sache. Vor fünf Jahren, als wir erstmals mit unseren Schreibtis­chen unser Sommerbüro bezogen haben, hat uns Mayer mit seiner Lechhausen-Hymne beglückt. An diesem ersten Dienstag in Pfersee hat er die Gitarre zu Hause gelassen, aber einfach erzählen geht ja immer. Denn Pfersee, das ist so etwas wie seine Heimaterde, hier ist Gustl Mayer groß geworden und zur Schule gegangen. Wenn er von der Langeweile des Jungen bei den Gottesdien­sten in Herz Jesu spricht, flüstert Mayer, damit Pfarrer Götz sich nicht auf die Füße getreten fühlt. „Ich bin ein Häretiker“, sagt er und lacht wie ein Schelm. Gleich danach wird er ernst und berichtet, wie er sich vom Geschäftsm­ann zum

Pfersee hatte einmal eine Synagoge

Die Welt mit dem Malblock festgehalt­en

Musiker und Künstler verwandelt hat. In einer schweren Lebenskris­e, mit Depression­en war er vor vielen Jahren im Bezirkskra­nkenhaus in Günzburg zur Behandlung. Auf die Maltherapi­e dort folgte anschließe­nd eine Ausbildung als Künstler, und jetzt, viele Jahre später, hat Mayer ein Buch vorgelegt, das „Gemalt, statt geknipst“heißt. Denn auf den Reisen durch die Welt hat Mayer nicht mehr den Fotoappara­t dabei, sondern das Skizzenbuc­h und den Aquarellbl­ock.

Wir bekommen auch noch einen Hinweis: Willi Strauß macht kurz Halt und möchte wissen, was diese Tische, unsere mobilen Schreibtis­che, hier zu suchen haben. Wie, auf der Suche nach der Stadtteilk­ultur in Pfersee? Na also, dann empfiehlt er uns doch dringend, die Augsburger Straße runterzuge­hen bis zu diesem ehemaligen Schuhgesch­äft, da seien immer schöne Ausstellun­gen zu sehen, zur Zeit Stühle, von Künstlern gestaltet.

Schon sind die ersten beiden Stunden in Pfersee vergangen. Es ist Zeit zum Abbauen, Zeit zum Aufwärmen. Im Block stehen schon Stichpunkt­e für die nächste Woche: Bücherinse­l, Stuhl-Ausstellun­g, Jugendstil und diese unglaublic­h bewegende Geschichte um Bruder Paulus. Wir kommen wieder, am 11. August. Kontakt Sie erreichen uns in den kommenden vier Wochen via E-Mail unter der Adresse kulturstra­sse@ augsburger-allgemeine.de

 ?? Fotos: Michael Schreiner (3), Richard Mayr ?? Fachsimpel­n über Pfersee: Bernhard Kammerer von der Bürgerakti­on Pfersee (links) im Gespräch mit Wilfried Matzke (Leiter des Geodatenam­tes) an unseren mobilen Schreibtis­chen vor Herz Jesu im Zentrum des Stadtteils.
Fotos: Michael Schreiner (3), Richard Mayr Fachsimpel­n über Pfersee: Bernhard Kammerer von der Bürgerakti­on Pfersee (links) im Gespräch mit Wilfried Matzke (Leiter des Geodatenam­tes) an unseren mobilen Schreibtis­chen vor Herz Jesu im Zentrum des Stadtteils.
 ??  ?? Alte Ansichten aus Pfersee mit dem Schlössle.
Alte Ansichten aus Pfersee mit dem Schlössle.
 ??  ?? Ein Jugendstil­juwel im Zentrum des Stadtteils: Herz Jesu.
Ein Jugendstil­juwel im Zentrum des Stadtteils: Herz Jesu.
 ??  ?? Die Künstlerin Tine Klink in ihrem Kreativrau­m.
Die Künstlerin Tine Klink in ihrem Kreativrau­m.

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