Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Der typische Pferseer ist ein Zugereister
Unsere mobilen Schreibtische bauen wir für „Kultur aus Pfersee“erstmals vor Herz Jesu auf. Wir waren unsicher, was uns erwartet. Die Zweifel verfliegen schnell. Alte Bekannte sagen „Hallo“, pralle Ordner werden nachgeholt, und der Pfarrer kommt fast zu sp
Es dauert keine zehn Minuten, dann sind wir drin im Pfersee-Modus. Bernhard Kammerer von der Bürgeraktion – er ist das Gedächtnis und der Anwalt des Stadtteils – beugt sich mit Wilfried Matzke vom Geodatenamt über den Stadtplan, der Pfersee im Jahr 1920 zeigt. Wo war noch mal „Raff und Söhne“? Ah, da. In der Fabrik gab’s 1903 einen Streik der Arbeiter – „hat aber nichts gebracht“, sagt Kammerer. Übrigens: Auffallend viele grüne Flecken mit der Inschrift „Mietgärten“sind auf dem alten Plan zu sehen. „Die Wohnsituation war bedrückend, eine Katastrophe. Da brauchten die Leute einen Ausgleich“, sagt Kammerer.
Die Themen wechseln schnell an unseren mobilen Schreibtischen, die wir zum Auftakt unserer Serie „Kultur aus Pfersee“an diesem späten Dienstagnachmittag zum ersten Mal im Schatten der Herz-Jesu Kirche aufgebaut haben. Es ist feuchtkalt, aber das Wetter hält Besucher ebenso wenig ab wie Corona-Angst. Hätte ja sein können… Noch nie, seit wir unsere Schreibtische im Sommer draußen in einem Stadtteil aufstellen, waren wir so unsicher, was uns erwarten wird wie diesmal, im sechsten Jahr – in Pfersee eben. Doch die Zweifel verfliegen schnell.
Wir reden über die jüdische Vergangenheit Pfersees, das einmal eine Sonntagsschule und eine Synagoge beherbergte. Die existiert aber seit dem 19. Jahrhundert nicht mehr. Es gibt auch kein Bild davon, obwohl die Fotografie damals schon in der Welt war. Pfersee, 1911 nach Augsburg eingemeindet, gehörte 500 Jahre lang, bis 1805, zu Österreich. Wie war das eigentlich mit der Wertach, die Pfersee ja von Augsburg trennt? Auf einem alten Stich sieht man den Fluss mäandernd und in schönen Schleifen. Hochwasser war alltäglich, nach Augsburg ging es via Oberhausen rüber. Bernhard Kammerer erinnert daran, dass der Ausbau der Luitpoldbrücke, die heute Pfersee mit Augsburg verbindet, Verhandlungsgegenstand bei der Eingemeindung 1911 war. Während Bernhard Kammerer eben nach Hause springt, um seine Ordner zu holen („ohne die geht’s jetzt doch nicht mehr“), nimmt Franz Götz am Schreibtisch Platz. Der Stadtpfarrer ist sozusagen der Hausherr hier, und er ist unter freiem Himmel auf dem Vorplatz von Herz Jesu so in die Gespräche vertieft, dass er fast zu spät hinein huscht in die Sakristei für die Messe um 18.30 Uhr. Götz ist ein besonnener Mann, sich freut, wenn der Platz vor seiner Kirche als Teil des Stadtteillebens angenommen wird. Hier steht der Maibaum, hier steht der Pferseer Christbaum – und jetzt eben unsere Schreibtische.
Die Jugendstil-Kirche Herz Jesu, ein Baujuwel, entstand in der Hochphase der Industrialisierung Pfersees und wurde ein Jahr vor der Eingemeindung nach Augsburg fertig. Wie auf ein Stichwort ist Bernhard Kammerer zurück mit einer kiloschweren Tasche, darin drei gelbe Aktenordner voller Bilder. Er zeigt eines mit rauchenden Schloten und Kaminen am Horizont. Das „Bauerndorf“Pfersee war um die Jahrhundertwende längst von großen Fabriken umgeprägt. Die vielen Arbeiter, die zuzogen, beteiligten sich mit Spenden am Bau von Herz Jesu – ein Projekt, das man dem erst 29-jährigen Baumeister Michael Kurz anvertraut hatte. Franz Götz bewundert „den Mut, so etwas zu wagen“.
Aber er bewundert auch die einfachen Gläubigen und ihren Beitrag. „Wir haben zum Beispiel eine Spendenquittung im Archiv, die belegt, wie eine einfache Weberin zwei Tagelöhne ihres Monatsgehalts für den Kirchenbau gegeben hat. Das war großartig, dass Herz Jesu ein solches Gemeinschaftsprojekt war.“Wie ein einfacher Dorfpfarrer damals im Jugendstil, der ja damals ein „säkularer Stil“war, ein modernes theologisches Konzept realisieren ließ – das nötigt dem Stadtpfarrer Respekt ab. Niemand widerspricht in der Runde seiner Einschätzung, dass die Kirche „ein Glücksfall für Pfersee“ist.
Mehrfach fällt an diesem ersten
Dienstag der Satz: „Der typische Pferseer ist ein Zugereister“. Das stimmt wohl. Es trifft auf Jürgen Hillesheim zu, den Leiter der Brecht-Forschungsstelle, der wie „Baal“in der Metzstraße wohnt und uns auf dem Weg vom Einkaufen zufällig vor Herz Jesu entdeckt. Es trifft auf Gerald Fiebig zu, den Leiter des Kulturhauses Abraxas. Er bringt ein paar Schokoriegel vorbei und erzählt am Schreibtisch, dass er seit 2011 hier wohnt und „mit großer Leidenschaft Pferseer ist“. Seine Frau Tine Klink, eine Malerin, führt um die Ecke den „Kreativraum“, der so eine Art Mini-Kulturzentrum in Pfersee ist. Tine Klink, die uns ihre Räume später zeigt, ist ebenso wie Fiebig Mitglied in der Bürgeraktion Pfersee, die seit Jahrzehnten kreativ und energisch für den Stadtteil kämpft.
Moment, dieses Gesicht kennen wir doch auch? Wie war noch der Name? Reisinger, Monika, Kriegshaber, Reinöhlstraße, ja, wir haben sie nicht vergessen, das Gedächtnis funktioniert noch. Monika Reisinger hat uns auch vergangenes Jahr in Oberhausen und zuvor in Kriegshaber besucht. Sie kommt aber nicht nur zum Zeitvertreib, sie hat auch eine Frage. „Cousins und Cousinen meines Manns kommen aus Pfersee.“Besser, haben ein paar Jahre in Pfersee gelebt in den 1950ern, bevor sie in die USA ausgewandert sind. Auf Heimat-Besuch waren sie natürlich auch mal in der Zwischenzeit, aber kürzlich sei der Wunsch an sie herangetragen worden, ob sie nicht herausfinden könne, ob sich noch jemand in Pfersee an Anna, Magdalena, Hans, Frank und Ernst Petruska erinnere. Wir können dieder se Frage natürlich nicht beantworten, geben sie aber an dieser Stelle einfach einmal weiter an unsere Leser in Pfersee.
Den Herren mit dem hintergründigen Humor und dem gepflegten Schwäbisch, der sich dann nähert, kennen wir auch schon länger: Gustl Mayer – Musiker, Maler, MundartPoet und immer auch Geschäftsmann in eigener Sache. Vor fünf Jahren, als wir erstmals mit unseren Schreibtischen unser Sommerbüro bezogen haben, hat uns Mayer mit seiner Lechhausen-Hymne beglückt. An diesem ersten Dienstag in Pfersee hat er die Gitarre zu Hause gelassen, aber einfach erzählen geht ja immer. Denn Pfersee, das ist so etwas wie seine Heimaterde, hier ist Gustl Mayer groß geworden und zur Schule gegangen. Wenn er von der Langeweile des Jungen bei den Gottesdiensten in Herz Jesu spricht, flüstert Mayer, damit Pfarrer Götz sich nicht auf die Füße getreten fühlt. „Ich bin ein Häretiker“, sagt er und lacht wie ein Schelm. Gleich danach wird er ernst und berichtet, wie er sich vom Geschäftsmann zum
Pfersee hatte einmal eine Synagoge
Die Welt mit dem Malblock festgehalten
Musiker und Künstler verwandelt hat. In einer schweren Lebenskrise, mit Depressionen war er vor vielen Jahren im Bezirkskrankenhaus in Günzburg zur Behandlung. Auf die Maltherapie dort folgte anschließend eine Ausbildung als Künstler, und jetzt, viele Jahre später, hat Mayer ein Buch vorgelegt, das „Gemalt, statt geknipst“heißt. Denn auf den Reisen durch die Welt hat Mayer nicht mehr den Fotoapparat dabei, sondern das Skizzenbuch und den Aquarellblock.
Wir bekommen auch noch einen Hinweis: Willi Strauß macht kurz Halt und möchte wissen, was diese Tische, unsere mobilen Schreibtische, hier zu suchen haben. Wie, auf der Suche nach der Stadtteilkultur in Pfersee? Na also, dann empfiehlt er uns doch dringend, die Augsburger Straße runterzugehen bis zu diesem ehemaligen Schuhgeschäft, da seien immer schöne Ausstellungen zu sehen, zur Zeit Stühle, von Künstlern gestaltet.
Schon sind die ersten beiden Stunden in Pfersee vergangen. Es ist Zeit zum Abbauen, Zeit zum Aufwärmen. Im Block stehen schon Stichpunkte für die nächste Woche: Bücherinsel, Stuhl-Ausstellung, Jugendstil und diese unglaublich bewegende Geschichte um Bruder Paulus. Wir kommen wieder, am 11. August. Kontakt Sie erreichen uns in den kommenden vier Wochen via E-Mail unter der Adresse kulturstrasse@ augsburger-allgemeine.de