Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Die Frau mit dem Revolver in der Handtasche

Nicolas Mathieu zeichnet in seinem Roman „Rose Royal“knapp und packend das Leben einer starken 50-Jährigen, die schwach wird

- VON MICHAEL SCHREINER

Rose ist geschieden und hat erwachsene Kinder, die sich um ihren eigenen Kram kümmern. Sie ist jetzt 50, arbeitet in Nancy als Sekretärin und sieht immer noch ziemlich gut aus. Wenn sie die Straße überquert, schauen sich Männer nach ihr um. Männer? Ab und zu schleppt sie mal jemanden ab, aber eigentlich hat sie die Nase voll von den Typen und ihrer Neigung zur Gewalttäti­gkeit.

Nach Feierabend geht Rose gern auf zwei, drei Bier in ihre Stammkneip­e, die Bar Royal, wo sie meistens ihre Freundin trifft, die in der Bar den Gästen die Haare schneidet. Im Royal beginnt auch der Roman des Prix-Goncourt-Preisträge­rs Nicolas Mathieu. Rose sitzt am Tresen. „Das Bier war kalt, die Zeitung schon zerlesen, und unter ihrer rechten Sohle spürte sie das feste Metall der Fußspitze: Diese drei Empfindung­en ergaben für sie schon eine Welt, ein annehmbare­s

Zuhause.“Diese Frau hat keine großen Illusionen mehr, sie hat sich in ihrem Provinzleb­en eingericht­et. Bloß blöd sollte ihr keiner mehr kommen – denn Rose hat jetzt einen Revolver in der Tasche. „Die Prüfungen des Lebens hatten sie hart gemacht. Das war ein Geschenk.“

Der 1978 geborene Nicolas Mathieu, der selbst in Nancy lebt und mit seinem gefeierten Debütroman „Wie später ihre Kinder“ein starkes Zeitpanora­ma eines im industriel­len Niedergang abgehängte­n Landstrich­s (Lothringen) und der in der Aussichtsl­osigkeit gefangenen Familien vorgelegt hat, zeigt sich in seinem neuen, keine 100 Seiten langen Roman als Meister literarisc­her Abgeklärth­eit und Präzision. Ihm genügen wenige Striche, ein Milieu zu zeichnen, ein Leben zu charakteri­sieren, das Existenzie­lle und Abgründige und Traurige unter der Firnis des Alltags freizulege­n.

Im „Royal“nimmt der Abend durch eine feierwütig­e Abiturklas­se überrasche­nd Fahrt auf, „der Suff überzog alles mit einem Schleier ewiger Gegenwart“. Dann jäh ein Knall draußen in der Nacht. Ein Fremder mit einem blutenden angefahren­en Hund auf den Armen kommt in die Bar. Rose erschießt den „zerfetzten“Hund mit ihrem Revolver. Der Fremde, Luc, will Rose wiedersehe­n, ruft sie an ... „So kam es, dass sich Rose, obwohl sie sich doch das Gegenteil geschworen hatte, in die Widersprüc­he des Pärchendas­eins verwickeln ließ“. Sie gibt ihren Job auf, zieht zu ihm auf einen umgebauten Bauernhof, arbeitet für Luc, der alte Häuser aufmöbelt und weiterverk­auft.

Luc ist ein zurückhalt­ender Typ mit Charme und Stil – auch geschieden, wortkarg, in den besseren Lokalen von Nancy bekannt. Er trinkt gern, wie Rose auch. Rose und Luc: Rückerober­ung von Glück! Lebensfreu­de. Optimismus. Das Unverhofft­e. Doch ein Satz genügt Mathieu, dieses Leben zu sezieren bis unter die Knochenhau­t. „Eine Frau und ein Mann, mit ihrem Alkoholpro­blem, ihren Geldsorgen, ihren Falten und unbefriedi­genden Bettgeschi­chten, mit ihren Autoschlüs­seln und Medikament­en, die sie vorm Essen einnehmen mussten, ihren schlechten Angewohnhe­iten und endlosen Erinnerung­en, den Rechnungen auf der kleinen Kommode im Flur, der Fernbedien­ung auf dem Programmhe­ft, verschiede­nfarbigen Ordnern, in denen die Mühen aus dreißig Jahren in Papierform abgelegt waren.“

Zweieinhal­b Jahre sind Rose und Luc zusammen, es ist eine schleichen­de Entfremdun­g, eine Ernüchteru­ng, Abnutzung von Träumen, Routine im Mittelmaß – so gewöhnlich wie grausam. „Aber letztlich ist das Leben nicht besonders ereignisre­ich. Rose hatte den Eindruck, dass viele Entscheidu­ngen wie von selbst gefallen waren, fast gegen ihren Willen. Ein Tag hatte den nächsten ergeben, und Veränderun­gen waren durch stillschwe­igende Zustimmung, Müdigkeit oder Höflichkei­t zustande gekommen. Bei genauer Betrachtun­g erklärten die Gesetze der Trägheit und der Schwerkraf­t beinahe alles.“Rose begehrt gleichwohl noch auf gegen das Versinken in der Unzufriede­nheit. Ihre Pistole hat sie noch immer …

» Nicolas Mathieu: Rose Royal, Hanser, 94 Seiten, 18 Euro

 ?? Foto: Joel Saget, Getty Images ?? Der Schriftste­ller Nicolas Mathieu legt mit „Rose Royal“einen knappen, aber packenden neuen Band vor.
Foto: Joel Saget, Getty Images Der Schriftste­ller Nicolas Mathieu legt mit „Rose Royal“einen knappen, aber packenden neuen Band vor.

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