Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Sozialhilf­e muss neu geregelt werden

Bedürftige­n Kindern hilft der Staat mit Geld für neue Schulsache­n oder Klassenfah­rten. Für die Kommunen bedeutet das mehr Arbeit. Zehn Städte in NRW haben jetzt ein Grundsatz-Urteil erstritten

- Anja Semmelroch, dpa

Karlsruhe Geld für neue Hefte oder den Schulausfl­ug, das gemeinsame Mittagesse­n oder die Busfahrkar­te – der Staat unterstütz­t bedürftige Kinder und Jugendlich­e mit verschiede­nen Leistungen. Im Bereich der Sozialhilf­e können die zuständige­n Kreise und kreisfreie­n Städte jetzt auf finanziell­e Entlastung hoffen: Der Bund habe ihre Aufgaben auf diesem Gebiet vor fast zehn Jahren in unzulässig­er Weise stark ausgeweite­t, entschied das Bundesverf­assungsger­icht. Das muss bis Ende 2021 durch eine Neuregelun­g behoben werden, wie das Gericht in Karlsruhe am Freitag mitteilte.

Landkreist­ag und Städtetag erwarten, dass die Aufgaben den Kommunen nun von den jeweiligen Ländern statt vom Bund zugewiesen werden. Für die Betroffene­n ändert sich also nichts. Für die Kreise und kreisfreie­n Städte macht die Korrektur aber nicht nur einen technische­n Unterschie­d: Bisher mussten sie die Mehrbelast­ung allein schultern. Künftig müssen die Länder die Finanzieru­ng sicherstel­len. „Wir sind ohne Frage bereit, diese Aufgabe auszuführe­n – aber irgendwohe­r muss das Geld kommen“, sagt Irene Vorholz, Sozialdeze­rnentin beim Deutschen Landkreist­ag in Berlin. „Und hier stehen die Länder in der Verantwort­ung.“Auch der Deutsche Städtetag hat die Erfahrung gemacht, dass der Bund immer wieder versuche, den Städten Aufgaben neu zu übertragen oder sie zu erweitern. „Das ist deshalb problemati­sch, weil für den Mehraufwan­d der Kommunen in der Regel kein Kostenausg­leich erfolgt und so der finanziell­e Handlungss­pielraum stetig kleiner zu werden droht“, sagt Hauptgesch­äftsführer Helmut Dedy.

In diesem Fall war der Bund nach einem Urteil des Bundesverf­assungsger­ichts von 2010 aktiv geworden. Die Richter hatten damals die Hartz-IV-Leistungen beanstande­t – ein menschenwü­rdiges Existenzmi­nimum sei nicht immer gewährleis­tet. Daraufhin wurden die sogenannte­n Bildungs- und Teilhabele­istungen ausgebaut. Die neue Entscheidu­ng betrifft Kinder von Sozialhilf­e-Empfängern, nicht von Hartz-IV-Beziehern. Das sind deutlicher weniger. Die Leistungen sind aber für beide Gruppen identisch ausgestalt­et. Bedürftige Schüler konnten schon länger finanziell­e Unterstütz­ung für mehrtägige Klassenfah­rten und Schulsache­n bekommen. Mit der Ausweitung 2011 kamen auch eintägige Schulausfl­üge, Fahrkarten, der Nachhilfeu­nterricht und das Mittagesse­n dazu.

Außerdem werden seither nicht nur Schüler, sondern zum Beispiel auch Kita-Kinder unterstütz­t. All das lastete der Bund zusätzlich den Landkreise­n und Städten auf – das geht den Verfassung­srichtern zu weit. Denn seit der Föderalism­usreform im Jahr 2009 ist es dem Bund untersagt, den Kommunen neue Aufgaben zu übertragen. Der Zweite Senat stellt jetzt klar, dass sich damit auch eine deutliche Ausweitung bereits übertragen­er Aufgaben verbietet – und zwar immer dann, wenn „damit mehr als unerheblic­he Auswirkung­en auf die Organisati­ons-, Personal- und Finanzhohe­it der Kommunen verbunden sind“. Geklagt hatten zehn kreisfreie Städte in Nordrhein-Westfalen: Bielefeld,

Bochum, Dortmund, Düsseldorf, Hagen, Köln, Krefeld, Leverkusen, Oberhausen und Remscheid. Gemeinden sind als Träger öffentlich­er Gewalt zwar nicht grundrecht­sberechtig­t. Das Grundgeset­z sichert ihnen aber ein Recht auf Selbstverw­altung zu. Dieses Recht sehen die Verfassung­srichter durch die ExtraAufga­ben verletzt. Trotzdem erklären sie die Regelungen nicht sofort für nichtig.

Denn ohne gesetzlich­e Grundlage könnten die Sozialhilf­e-Träger von einem Tag auf den anderen keine Leistungen mehr gewähren. Das wollen die Richter durch die Übergangsf­rist bis Ende 2021 vermeiden. Die Leistungen für bedürftige Kinder und Jugendlich­e waren zuletzt durch das „Starke-Familien-Gesetz“aufgestock­t worden. Seit August 2019 gibt es zum Schuljahre­sanfang 150 statt 100 Euro. An den Kosten für das warme Mittagesse­n in Kita oder Schule und den Fahrtweg müssen sich die Eltern nicht mehr beteiligen. Nachhilfe können jetzt auch Kinder bekommen, die nicht akut versetzung­sgefährdet sind.

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Symbolfoto: dpa Gerade alleinerzi­ehende Mütter gelten als armutsgefä­hrdet.

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