Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Ulm kauft alles in Ulm, um Ulm und um Ulm herum
Die Stadt sorgt mit ihrer Bodenpolitik dafür, dass Immobilien-Spekulanten bei Grundstücken seit mehr als 100 Jahren keine Chance haben
Ulm/Neu-Ulm Noch ein Rekord für Ulm: Nicht nur der höchste Kirchturm der Welt steht in der Münsterstadt. Vermutlich keiner anderen Stadt der Republik gehören prozentual so viele Flächen. 4500 Hektar werden vom Rathaus verwaltet, davon etwa 3500 innerhalb der Gemarkung Ulms. Das macht laut Ulms Baubürgermeister Tim von Winning rekordverdächtige 30 Prozent der Stadtfläche aus. So könne Ulm Bodenspekulanten wirkungsvoll ausbremsen. Im Vergleich zu Städten mit vergleichbarer Anziehungskraft gelten daher die Grundstückspreise in Ulm als außerordentlich niedrig.
Von heute auf morgen hat Ulm diese Sonderrolle nicht erreicht: Bereits bei der Weltausstellung 1900 in Paris – irgendwo zwischen den Projektionen der Brüder Lumière und einem 100-Meter-Riesenrad – zeigte Ulm der Weltöffentlichkeit seine Boden- und Siedlungspolitik. Sogar eine Auszeichnung gab es dafür: die Silbermedaille für seine Arbeitersiedlung Untere Bleiche. Die charakteristischen Backstein-Häuschen gibt es noch heute. Doch innovativ war nicht das Baumaterial, sondern die Art der Umsetzung: Um Spekulationen zu vermeiden, sicherte sich die Stadt Ulm schon vor über 120
Jahren ein Wiederkaufsrecht für die günstigen Arbeiterhäuschen, die inmitten eines Nachfragebooms im Zuge der Industrialisierung entstanden.
An dieser Politik hat sich bis heute nichts geändert: Um Herr rund ums Münster zu bleiben, kauft die Stadt im Grunde alles, was sie kriegen kann. „Wir sind auch der größte Grundbesitzer in Neu-Ulm“, sagt von Winning. Hier allerdings nicht aufgrund des Kaufrauschs: Sondern „aus historischen Gründen“, wie von Winning sagt, um ja nicht den Eindruck zu erwecken, das badenwürttembergische Ulm stehe mit der bayerischen Schwesterstadt hier in unguter Konkurrenz. Das Gegenteil sei der Fall: Schließlich gibt es einen gemeinsamen Stadtentwicklungsverband. So steht etwa die eigentlich sehr ulmische RatiopharmArena auf Neu-Ulmer Grund, obwohl Ulm den Löwenanteil finanzierte.
Im Ulmer Stadtgebiet schlägt die Stadt zu, wo sie kann – auch um Flächen für Tauschgeschäfte parat zu haben. Nur so konnte auch vor über 20 Jahren am Eselsberg die damals größte Passivhaus-Siedlung der Republik entstehen. Bevor von Winning 2015 Baubürgermeister in Ulm wurde, war er in Tübingen als Fachbereichsleiter mit städtischen Liegenschaften und Verkehrsplanung befasst und habe sich dort für die Einführung des Ulmer Modells starkgemacht – ohne damals zu ahnen, wenig später am Original zu tüfteln. Nun wird auch in der traditionsreichen Universitätsstadt versucht, Boden zu bevorraten. Tübingen steht aber im Gegensatz zu Ulm noch ganz am Anfang. Nachahmer bräuchten Ulms langen Atem, sagt von Winning. 40 Jahre habe es etwa gedauert, bis sämtliche Grundstücke für das nächste große Ulmer Baugebiet, die Kohlplatte, beisammen waren. 20 Millionen Euro gab Ulm über die Jahre dafür aus. Nötig sei dafür Disziplin im Gemeinderat: Wenn Ulm anfangen würde, in schwierigen Zeiten mit Grundstücksverkäufen Haushaltslöcher zu stopfen, wäre das System schnell am Ende. Doch dem Baubürgermeister ist nicht bange: „Es gibt hier große Einigkeit über Parteigrenzen hinweg.“
Noch ein Prinzip verfolgt Ulm eisern: Neues Baurecht werde nur geschaffen, wenn der Grund der Stadt gehört. Das bedeutet für Landwirte, dass sie „Bauerwartungsland“, also
Flächen, die eine bauliche Nutzung in absehbarer Zeit erwarten lassen, nur an die Stadt verkaufen können. „Private Investoren mögen das nicht“, sagt von Winning. Das ist dem 1970 geborenen Baubürgermeister freilich egal, wichtiger sei, dass für die Stadtentwicklung schädliche Spekulationen mit Baugrund so keine Grundlage haben. Von Winning betont: Ulm bezahle aber einen fairen Preis. Im Schnitt etwa 60 Euro pro Quadratmeter.
Den vergleichsweise günstigen Einkaufspreis gebe die Stadt beim Verkauf dann weiter, Geld wolle die Stadt mit Grundstücken nämlich nicht verdienen. Das Erstzugriffsrecht eines Baugebiets habe die städtische Wohnungsbaugesellschaft. Weitere Teile gehen dann an Genossenschaften, Baugemeinschaften und auch profitorientierte Bauträger.
Das Ziel der Stadt: „Ein bunter Blumenstrauß“, sagt von Winning über die Mischung der Umsetzung – von Sozialwohnungen über ökologische Vorreiter-Siedlungen bis hin zum Holzbau. Eine gesunde Mischung auf verschiedenen Baufeldern eines Baugebiets ergebe sich aus dieser „Konkurrenz an Ideen“, die jedem Vergabe-Modell zugrunde liege. Am Ulmer Safranberg ist der jüngste, knallbunte Blumenstrauß fast fertig.