Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Als Augsburg eine brandgefährliche Stadt war
Augsburg galt früher als deutlich bedrohlicher und krimineller. Ein Blick auf Statistiken und Verbrechen aus fünf Jahrzehnten zeigt: Die Sache ist kompliziert
Einmal, Ende der 1970er, geht es um zwei Schülerinnen, die in Augsburg per Anhalter weiterfahren wollen und in das Auto eines Mannes steigen. Der unterbricht die Fahrt irgendwann, bedroht die Mädchen mit einem Messer, fesselt sie. Eine Schülerin erdrosselt er, die andere sperrt er in einen Bunker, vermutlich, um sie später umzubringen. Doch das Mädchen kann sich befreien und überlebt.
Es ist ein Szenario wie aus einem Horrorfilm, und in den damaligen Berichten der Polizei zur Kriminalstatistik taucht der Fall auch unter dem Punkt „herausragende Ereignisse“auf. Heute ist er im kollektiven Gedächtnis der Stadt nicht mehr präsent, was für viele Mordfälle und Verbrechen aus vergangenen Jahrzehnten gilt und nachvollziehbar ist: Es wären einfach zu viele, um sich als Gesellschaft an alle zu erinnern.
Wer sich heute mit erfahrenen und ehemaligen Polizisten aus Augsburg unterhält, kann den Eindruck bekommen, dass Stadt und Region früher, also in den 60er Jahren bis in die 90er hinein, gewalttätiger und unsicherer waren. Dass damals wilde Zeiten in der Region herrschten, in denen amerikanische Soldaten noch ein wichtiger Faktor waren, in denen es in den Kneipen praktisch jeden Abend zu Schlägereien kam, in denen auf Autodiebe noch geschossen wurde und in denen Polizisten nur zu Fuß auf Streife gingen. Immerhin stammt aus dieser Ära eine Serie bis heute ungeklärter Morde: 14 Frauen, die in und um Augsburg ab 1966 erstochen, erschlagen und erwürgt wurden, vor allem Prostituierte.
Es gibt viele brutale, auch absurde und aus heutiger Sicht schwer nachvollziehbare Geschichten aus diesen Jahrzehnten, doch wer nachvollziehen will, ob Augsburg damals gefährlicher war als heute, muss auch einen Blick auf die Statistik werfen. Und die zeigt: Die Sache ist kompliziert. Wer sich die Zahlen ab 1964 anschaut, findet tatsächlich einige Jahre, in denen es in der Stadt deutlich mehr Kapitaldelikte gab als in den vergangenen fünf Jahren. 1969 und 1972 etwa gab es jeweils sechs Fälle, in denen Menschen im Stadtgebiet durch Mord und Totschlag ums Leben kamen, 1991 waren es 8, 1993 waren es 7. Auch die Zahlen aus dem Umland sind manchmal enorm hoch, sechs Fälle pro Jahr im Landkreis scheinen phasenweise keine Ausnahme zu sein. Zum Vergleich: Zwischen 2015 und 2019 notierte die Polizei in ihrer Statistik nur drei Fälle von vollendetem Mord oder Totschlag in Augsburg. Dabei ist die Stadt erheblich größer geworden: In den 60ern lebten fast ein Drittel weniger Menschen in Augsburg als heute, wo es rund 300 000 sind.
Doch ein genauerer Blick auf die Zahlen relativiert die Angelegenheit. Denn mag die Zahl der vollendeten Tötungsdelikte in der jüngeren Vergangenheit für eine Großstadt beachtlich niedrig gewesen sein – die Zahl der Versuche war es weniger. 2019 gab es laut Polizeistatistik beispielsweise zusammengenommen zehn Fälle von Mord und Totschlag in Augsburg, was auch im Vergleich zu früheren Jahrzehnten nicht beeindruckend niedrig ist.
Nur dass neun davon Versuche blieben, die Opfer also überlebten. Dass Menschen in Augsburg heute seltener durch brutale Verbrechen ums Leben kommen, liegt vermutlich auch an deutlich verbesserter medizinischer Versorgung. So sagte der frühere Chef des Kommissariats 1 der Kriminalpolizei, Helmut Sporer, unserer Zeitung einmal, es können „immer mehr Schwerstverletzte gerettet werden“.
Hinzu kommt: Man muss nicht in die 60er oder 70er Jahre schauen, um in Augsburg eine Fülle von brutalen Morden zu entdecken, auch in jüngerer Vergangenheit war die Zahl der Kapitaldelikte teils hoch. 2012 starben bei sieben Mord- oder Totschlagsfällen in Augsburg Menschen, 2014 waren es fünf. Und längst nicht jedes Jahr in den früheren Jahrzehnten war durch viele Schwerverbrechen geprägt. So hieß es in einem Bericht unserer Zeitung über 1977 in Augsburg, es habe zwar „14 Tötungsdelikte“gegeben, doch auch „ein Novum in der Kriminalitätsstatistik: Im vergangenen Jahr mussten die Beamten keinen einzigen Mord klären“.
Man könnte übrigens glauben, dass derartige Zahlen zentral gespeichert werden, schon um langfristige Vergleichbarkeit zu gewährleisten, doch dem ist nicht so. Auch sind offenbar nicht alle Jahresberichte der früheren Polizeidirektion Augsburg erhalten geblieben, in denen manches zu finden wäre. Die Polizei hat heute die Statistiken zu Mord und Totschlag in Augsburg seit 1990 in ihrem System. Wer Zahlen aus früheren Jahren sucht, muss sich in die Archive begeben, doch auch dann bleiben Lücken. Es gibt Daten, die sich in Unterlagen des LKA befinden, die im Hauptstaatsarchiv in München gelagert sind. Andere Statistiken befinden sich im Staatsarchiv in Augsburg, wiederum andere beim Bayerischen Landesamt für Statistik, manches geht aus Berichten hervor, die im Archiv unserer Zeitung oder im Privatarchiv unseres langjährigen Polizeireporters Klaus Utzni zu finden sind.
Vielfach sind aus früheren Jahrzehnten nur noch Daten der allgemeinen „Tötungsdelikte“erhalten, was eine Vergleichbarkeit schwierig macht, weil darunter nicht nur Mord und Totschlag fallen, die zumeist aber den Großteil dieser Delikte ausmachen, sondern auch fahrlässige Tötungen und Abtreibungen. Hinzu kommt, dass Mehrfachmorde eines Täters in der Polizeistatistik als ein Fall notiert werden und die Taten auch nicht immer im Jahr ihres Geschehens eingeflossen sind.
Dennoch lässt sich aus den Zahlen eine Tendenz ziehen: dass es in Stadt und Region Augsburg in früheren Jahrzehnten tatsächlich eher gefährlicher zuging als in jüngerer Vergangenheit und der Gegenwart. Manches lässt sich anhand der Archivberichte der Polizei zu den Statistiken erahnen, an der alltäglichen Schilderung von brutalsten Verbrechen, die heute tagelang die Schlagzeilen bestimmen würden. Mal ist von einem „Mord im Türkenmilieu“die Rede, ein anderes Mal heißt es über einen Mann, der seine Stieftochter vergewaltigte und ermordete: „Am 28. Dezember erhängte sich der Unhold in seiner Zelle.“
Noch so ein Fall, der aus dem Gedächtnis Schwabens verschwunden und im damaligen Jahresbericht der Polizei unter „herausragende Ereignisse“notiert ist: Im Oktober 1979 tauchte vor dem Privathaus des Leiters der Baurechtsabteilung des Landratsamtes Günzburg ein Mann mit einem Sturmgewehr auf. Er schoss durch ein Fenster und traf den Beamten mit 14 Kugeln. Eine Tat, die an einen politischen Anschlag erinnert. Der Grund war ein anderer, wie aus dem Jahresbericht des Polizeipräsidiums Schwaben hervorgeht. Täter war ein 55-jähriger Landwirt, dem ein Bauvorhaben nicht genehmigt worden war.