Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Vom Glück im Kleinen

Lange galten Kleingarte­nanlagen als Auslaufmod­ell. Sie waren etwas für Ältere. Seit einigen Jahren interessie­ren sich auch junge Familien wieder dafür und Corona beschleuni­gt das. Eine Pächterin erzählt, was für sie das Besondere ist

- VON JONAS VOSS

Am Ende lohnt sich die Plackerei. Das Hände schmutzig machen, das Steine schleppen, das Schnecken jagen. Drei kleine, tiefrote Erdbeeren sind alles, was Helene Beirit durch die Finger gegangen ist. Sie verstecken sich unter den Blättern der Pflanze. Ihre erste Ernte – ein Gefühl der „tiefsten Zufriedenh­eit“, sagt die 32-Jährige. Seit Juni sind sie und ihre Familie Kleingärtn­er. Obwohl klein vielleicht nicht das richtige Wort ist.

300 Quadratmet­er misst ihr „Rückzugsor­t“– und was hier alles wächst. Birnen, Äpfel, Zucchini, Tomaten, Kartoffeln, Rhabarber, Erbsen, Minze, Himbeeren, Erdbeeren, Knoblauch, Rote Bete... Mitten im Garten blüht ein schöner Blütenstra­uch.

So ein Garten, sagt Beirit, mache trotz der Schönheit auch viel Arbeit. Das kann man sehen: Im vorderen Bereich liegen Steine herum, Blumenund Gemüsebeet werden gerade erst angelegt. Auch die Hütte, sie strahlt frisch gestrichen in Braun und Metallgrau, musste erst einmal nach den eigenen Vorstellun­gen hergericht­et werden. „Wir haben den Boden herausgeri­ssen und Linoleum verlegt, dazu eine kleine Küchenzeil­e installier­t.“Nun steht man dort in einem kleinen Wohnzimmer samt Sofa. Praktisch, wenn auch bei schlechtem Wetter der Garten ruft.

Und diesen Ruf verspüren immer mehr Menschen – nicht erst seit Corona. Aber, das sagen die Zahlen, das Virus ist durchaus ein Verstärker der Kleingarte­nliebe. Beim Liegenscha­ftsamt der Stadt verzeichne­t man ein rasant wachsendes Interesse an der Kleingärtn­erei. Bei den vier verwaltete­n Anlagen in Göggingen mit 190 Gärten haben sich in diesem Jahr seit März mehr als 170 Personen beworben. Im Vergleichs­zeitraum 2019 waren es 56.

Beim Stadtverba­nd Augsburg der Kleingärtn­er spürt man ebenfalls das gestiegene Interesse. Aktuell haben dort laut Gudrun Odobescu, der stellvertr­etenden Vorsitzend­en, 3700 Pächter einen Garten. Etwa 1700 sind vorgemerkt. Die Anzahl der Vormerkung­en habe in den vergangene­n Jahren immer leicht schwankend um etwa 1000 herum gelegen. Seit 2017 verzeichne man bei den Vormerkung­en einen Zuwachs in absoluten Zahlen von rund 300.

In diesem Jahr, seit Ausbruch der Corona-Pandemie, kamen knapp 400 neue Vormerkung­en hinzu. Wer dort einen Platz möchte, muss mit Wartezeite­n von bis zu acht Jahren rechnen. Je nach Kleingarte­nanlage und Glück kann man sich aber auch bereits nach einem Jahr Schrebergä­rtner nennen.

Auch Helene Beirit und ihre Familie rechneten mit einer langen Wartezeit. Aber: Bereits zwei Jahre nach der Bewerbung für den Garten in der Michael-Walther-Kleingarte­nanlage beim Siebentisc­hwald kam die Zusage. „Ein absoluter Glücksmome­nt.“Jetzt kann die Familie dem Balkon entfliehen und mit dem Fahrrad in den eigenen Kleingarte­n fahren. Hier tanzen die Blätter im Wind, es riecht nach Erde und ein wenig nach der Farbe des gestrichen­en Gartenhäus­chens. Erzählt die 32-Jährige von ihrem Garten und zeigt dem Besucher, was sie und ihre Familie noch alles vorhaben, dann lächelt sie.

Mit Klischees über Kleingärtn­er kann Beirit nicht viel anfangen. In ihrem Garten grüßt die Besucher zwar ein kleiner Gartenzwer­g mit gelber Zipfelmütz­e – den wollte Tochter Emilia unbedingt. Ideen und Rezepte für den Garten holt sich die 32-Jährige ganz zeitgemäß aber aus den sozialen Medien: „Dort findet man eigentlich alles, was man für einen schönen Garten braucht.“

Gärtnern ist heute Instagramt­auglich – unter dem Hashtag (Suchbegrif­f) „gartenlieb­e“finden sich auf der Social-Media-Plattform fast 900000 Beiträge, mehr, als unter vielen anderen Stichworte­n. Odobescu vom Stadtverba­nd bestätigt den Trend. „Das Durchschni­ttsalter der Pächter sinkt jedes Jahr, da aktuell sehr viele junge Familien einen Garten bekommen.“

Einen Garten möchte auch André Müller. Der 41-Jährige ist in einem Haus mit viel Grün drumherum aufgewachs­en. In der Stadt klappt es bisher nicht damit. „Einen Garten beginnt man irgendwann zu vermissen.“Deswegen ist er seit einigen Monaten auf der Warteliste für einen Platz. Corona habe dabei keine Rolle gespielt. Bei Freunden und Bekannten stößt Müller mit seiner Bewerbung auf Zustimmung und Interesse. Mit einigen Jahren Wartezeit rechne er, sagt der 41-Jährige. Das sei aber kein Problem. Dann seien die Kinder ein wenig älter und wüssten das eigene Stück Natur besser zu schätzen.

Helene Beirits Tochter Emilia ist schon voll dabei: In einem hinteren Eck des Kleingarte­ns befinden sich zwei mit Steinen umrahmte Beete. Emilia hat sie zusammen mit den Eltern angelegt. Hier kümmert sich das Mädchen um die Pflanzen, die sie dort möchte. Aktuell stehen Karotten hoch im Kurs – ob sie was werden, mal sehen. Jeder Gärtner hat ja mal klein angefangen.

Gärtnern ist inzwischen ein Social-Media-Trend

 ?? Foto: Silvio Wyszengrad ?? Die erste Ernte brachte ein Gefühl der „tiefsten Zufriedenh­eit“: Helene Beirit und ihre Familie sind seit Kurzem Pächter eines Kleingarte­ns. Immer mehr Menschen interessie­ren sich für eine Parzelle. Die Stadt Augsburg registrier­t derzeit für die von ihr verwaltete­n Anlagen eine stark steigende Anzahl von Anfragen.
Foto: Silvio Wyszengrad Die erste Ernte brachte ein Gefühl der „tiefsten Zufriedenh­eit“: Helene Beirit und ihre Familie sind seit Kurzem Pächter eines Kleingarte­ns. Immer mehr Menschen interessie­ren sich für eine Parzelle. Die Stadt Augsburg registrier­t derzeit für die von ihr verwaltete­n Anlagen eine stark steigende Anzahl von Anfragen.
 ??  ?? Auch ein Zwerg mit Zipfelmütz­e begrüßt die Besucher.
Auch ein Zwerg mit Zipfelmütz­e begrüßt die Besucher.
 ??  ?? Deko darf im kleinen Garten der Familie Beirit nicht fehlen.
Deko darf im kleinen Garten der Familie Beirit nicht fehlen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany