Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Unterm Strich eine einzige Enttäuschu­ng

Er wurde viermal in Folge Weltmeiste­r. Er galt als „der neue Schumacher“. In der Welt der Formel 1 fragte man sich: Wer soll Sebastian Vettel je schlagen? Alles war gut – bis er zu Ferrari wechselte. Die Geschichte eines großen Missverstä­ndnisses

- VON MARCO SCHEINHOF

Ellighause­n Die Ruhe liegt wie ein Tuch über den grünen Wiesen. Ab und zu fährt mal ein Traktor vorbei und stört die Stille. Wer nach Ellighause­n zieht, sucht keine Aufregung. Der will es im Schweizer Hinterland des Bodensees ruhig haben. In der Ortsmitte gibt es einen kleinen Tante-Emma-Laden. Man kennt sich. Fremde werden kritisch beäugt. Für Sebastian Vettel ist das der ideale Rückzugsor­t. Er ist kein Mann der Öffentlich­keit. Das mag für einen viermalige­n Formel1-Weltmeiste­r eine ungewöhnli­che Haltung sein. Vettel aber ist eben so. Umso mehr stört es ihn wohl, dass nun gefühlt die ganze Welt über seine Zukunft nachdenkt. Darüber, wie es für ihn nach dem Ferrari-Aus weitergehe­n kann. Aufregung mischt sich in diese Gedanken. Nur Vettel bleibt ruhig – zumindest außerhalb der Rennstreck­e.

Der 33-Jährige hat sich schon vor Jahren einen alten Bauernhof in Ellighause­n gekauft, nur wenige Kilometer von Konstanz auf der deutschen Seite entfernt. Er hat ihn sich nach seinen Wünschen umgestalte­t. Einen Swimmingpo­ol ließ er sich anlegen, bei einem geplanten Tennisplat­z gab es Probleme mit Umweltakti­visten. Eine hohe Hecke schützt vor neugierige­n Blicken. Vettel hat für die Umbaumaßna­hmen einheimisc­he Betriebe beauftragt. Das gefällt den Leuten in der Schweiz. Und Vettel gefällt die Schweizer Zurückhalt­ung. Hier kann er in der Ruhe leben, die er so schätzt. Mit dem Fahrrad um den Bodensee fahren. Zu Hause an alten Motorräder­n schrauben oder im Garten werkeln. Vettel liebt es, in Baumärkten einzukaufe­n. Es sind Hobbys, die man von einem Formel-1-Helden nicht unbedingt erwarten würde. Vettel aber ist so.

Die Zeit als Held ist allerdings schon eine ganze Weile her. In diesem Frühjahr hat ihm Ferrari den Stuhl vor die Tür gestellt. Hat ihm recht unvermitte­lt mitgeteilt, dass die ruhmreiche Scuderia die Zukunft mit anderen Piloten plant. Vettel war davon überrascht, hatte nach den vorangegan­genen Verhandlun­gen eine andere Entscheidu­ng erwartet. Vettel aber ist bei Ferrari der Mann der Vergangenh­eit. Von einem großen Missverstä­ndnis wurde danach häufig geredet. Und das Missverstä­ndnis ist noch lange nicht zu Ende.

Dabei war er doch die große deutsche Formel-1-Hoffnung nach Michael Schumacher gewesen. Seine Familie wohnt noch im hessischen Heppenheim in der Nähe von Darmstadt. Sein Vater Norbert war früher Zimmermann und der größte Förderer seines Sohns auf dem Weg in die Formel 1. Als Sebastian Vettel seinen ersten WM-Titel 2010 holte, zerriss Vater Vettel vor lauter Freude die Hose von RTL-Boxengasse­nreporter Kai Ebel. Als Vettel 2015 zu Ferrari wechselte, sprang auch für den Papa ein roter Ferrari heraus. Mit dem fuhr er gerne die kurze Strecke von Heppenheim zum Rennen auf dem Hockenheim­ring und parkte ihn recht prominent in der Nähe des Fahrerlage­rs. Man soll sehen, was man hat. Auch so können sie sein, die Vettels.

Seit Juni 2019 ist Sebastian Vettel mit seiner Jugendlieb­e Hanna verheirate­t, die beiden haben drei Kinder. Auch vor Corona hatte Vettel seine Familie selten bei Rennen dabei. Auf entspreche­nde Fragen antwortet er gerne: „Sie bringen Ihre Familie auch nicht mit zur Arbeit.“So ist Vettel. Arbeit ist Arbeit, privat ist privat. Vermischen möchte er diese beiden Bereiche eigentlich nicht. Bei einem viermalige­n Weltmeiste­r ist das nicht immer leicht. Vettel aber bleibt konsequent. Von seinem dritten Kind ist noch nicht einmal der Name bekannt.

Seine vier Titel hat Vettel allesamt mit dem Red-Bull-Team eingefahre­n. Zunächst war die Mannschaft von Red-Bull-Gründer Dietrich Mateschitz in der Formel 1 belächelt worden. Ihre großzügige­n Räumlichke­iten an den Rennstreck­en wurden zum Anlaufpunk­t für viele Formel-1-Mitarbeite­r. Die Stimmung hier war gelöst, das Essen gut, die Atmosphäre angenehm, irgendein Prominente­r schaute immer vorbei. Red Bull wurde ein bisschen zur Partyhochb­urg der Formel 1.

Irgendwann aber begann Red Bull, um Siege zu kämpfen. Und um WM-Titel. Vor allem dank Vettel. Er ist noch immer der jüngste Sieger in einem Formel-1-Rennen. 2008 gelang ihm das mit Toro Rosso,

Schwestert­eam von Red Bull. Vettel ist auch nach wie vor der jüngste Weltmeiste­r. 2010 war er bei seinem ersten Triumph 23. Vettel ist also zweifellos einer der besten Rennfahrer der Welt. Nur: Er redet nicht gerne darüber. Soziale Medien mag er nicht. Er redet lieber direkt mit den Menschen. So ist Vettel eben.

Mittlerwei­le ist Sebastian Vettel 33 Jahre alt. Er fährt noch immer in der Formel 1. 2015 hatte er sich mit seinem Wechsel zu Ferrari einen Traum erfüllt. Er wollte schon immer für die Italiener fahren. Nach nun fast fünf Jahren Zusammenar­beit aber wird er wohl ein ums andere Mal über seine damalige Entscheidu­ng grübeln. Er betont zwar immer wieder, dass er den Wechsel nicht bereue. Letztlich aber steht nach fast fünf Jahren: Sein großes Ziel hat er verfehlt. Er wollte unbedingt mit Ferrari Weltmeiste­r werden. Davon war er so weit entfernt wie ein Renault Twingo von einer Teilnahme in der Formel 1.

Vettel quält sich. Sein Abstand zu seinem Teamkolleg­en Charles Leclerc ist gewaltig. Der Ferrari ist zwar momentan ein Auto, das den Spitzenkam­pf nur aus der Ferne erlebt. Wegen Entwicklun­gsfehlern und eines Motors, dessen Stärke durch die Regelhüter eingebrems­t wurde, ist ein Titelkampf nicht möglich. Leclerc aber zeigt, dass Ausreißer nach oben drin sind. Weil er der bessere Fahrer ist? Oder weil sich Vettel vielleicht mittlerwei­le wie ein Anfänger in der ersten Fahrstunde verhält? Wohl kaum.

Rennfahren lässt sich nicht so schnell verlernen. Erst recht nicht als viermalige­r Weltmeiste­r. Vettel verliert aber mehr und mehr das Vertrauen in sein Fahrzeug. Ein Formel-1-Fahrer ohne Vertrauen ist aber wie ein Skispringe­r mit

Angst vor der Höhe. Er wird es zu wenig bringen. Für das Rennen am Sonntag in Barcelona bekommt er ein neues Chassis an sein Auto. Das alte habe einen kleinen Fehler gehabt, heißt es bei Ferrari. Ob das wirklich etwas bringt?

Erst vor wenigen Tagen verkündete Vettel, dass er sich noch wohlfühle im Team. Dass er noch einen Job zu erledigen habe. Einen recht gut bezahlten obendrein. Am vergangene­n Wochenende in Silverston­e aber motzte er öffentlich über den Boxenfunk. „Ihr wisst, dass ihr es verbockt habt“, rief er den Teamstrate­gen zu, die sich seiner Meinung nach eine falsche Taktik für ihn ausgedacht hatten. Nach dem Rennen verließ er die FerrariMed­ienrunde vorzeitig. Ein bisschen erinnerte Vettel da an ein trotziges Kind. Auch so kann er sein.

Vettel kann aber auch anders. Er kann charmant sein. Lustig. Menschen mit seinen Sprüchen unterhalte­n. Er liebt die direkte Art, Ehrlichkei­t und Humor. Seit er aber bei Ferrari ist, hat er sich von Jahr zu Jahr mehr zurückgezo­gen. Die Wohlfühlat­mosphäre, die ihm Red Bull geboten hat und die für ihn so wichtig war, hat er bei den Italienern nie gefunden. Ein Missverstä­ndnis eben. Oder gar der Niedergang eines Superstars, wie es viele Kritiker empfinden? „Wir hatten nie wirklich das Paket, um Mercedes bis zum Saisonende herausford­ern zu können“, sagt Vettel.

Da ist es, das nächste große Problem während seiner Ferrari-Zeit: Mercedes und Lewis Hamilton. Diese Kombinatio­n ist so dominant, dass sie viele Konkurrent­en zum Verzweifel­n gebracht hat. Vettel und Ferrari eingeschlo­ssen. Zur Wahrheit gehört freilich auch, dass in den wenigen Momenten schwächeln­der Silberpfei­le auch bei Ferdem rari die Fehlerquot­e hoch war. Beim Fahrer, aber auch beim Team.

Vettel wird Fan der Marke Ferrari bleiben, das hat er angekündig­t. Ganz egal, was die Zukunft ihm bringt. Ob Hausmann in der Schweiz, weiter Formel-1-Fahrer oder was auch immer. Eine Entscheidu­ng habe er noch nicht getroffen, sagte Vettel zuletzt. Optionen gibt es einige, die wahrschein­lichste könnte ein Wechsel zum künftigen Werksteam von Aston Martin sein.

Nach dem ersten Rennen in Silverston­e vor knapp zwei Wochen hatte Vettel am Sonntagabe­nd die Strecke gemeinsam mit dessen Teamchef Otmar Szafnauer verlassen. Er war zumindest entdeckt worden, wie er in dessen Ferrari eingestieg­en ist. „Wir sind aber nur zur Tankstelle gefahren“, sagt Vettel, der sich mal wieder darüber wundert, welche Schlagzeil­en aus dieser gemeinsame­n Fahrt gemacht wurden. Eine italienisc­he Zeitung berichtet danach prompt, dass Vettel kurz vor der Unterschri­ft eines Dreijahres­vertrags stehe. Kommentier­en möchte das der 33-Jährige nicht. „Es gibt noch nichts zu verkünden“, sagt er lediglich.

Solche öffentlich­en Diskussion­en sind ihm zuwider. Natürlich mache er sich Gedanken über die Zukunft, natürlich tausche er sich mit engen Vertrauten aus. „Aber letztlich muss ich diese Entscheidu­ng treffen“, sagt er. Auch so ist Vettel. Auf einen Manager oder Berater verzichtet er. Er verhandelt lieber selbst. Immerhin einer langjährig­en Sprecherin vertraut er. Britta Roeske koordinier­t seine öffentlich­en

Auftritte und Interviews schon seit seiner Zeit bei Red Bull. Mit Bernie Ecclestone hat Vettel früher oft Backgammon gespielt. Der ehemalige Formel-1-Boss ist wohl so etwas wie ein Vertrauter. Auch RedBull-Motorsport­berater Helmut Marko zählt zu diesem Kreis. Michael Schumacher war vor seinem Unfall beim Skifahren ein wichtiger Ratgeber. Früher hingen Poster des Rekordwelt­meisters in Vettels Jugendzimm­er. Ihm wollte er nacheifern. Zu einem großen Teil ist es ihm auch gelungen.

Die Massen aber begeistert er nicht wie ein Schumacher. Statt 15 Millionen Zuschauer vor dem Fernseher schauen im Schnitt noch knapp fünf Millionen zu. Vettel ist nicht der Star zum Anfassen. Der Fahrer, für den die Fans tagelang an der Rennstreck­e campen. Vettel ist anders. Auch anders als Lewis Hamilton, der die Öffentlich­keit gerne an seinem Leben teilhaben lässt. Der von Metropole zu Metropole jettet. Vettel dagegen fühlt sich in der beschaulic­hen Schweiz am wohlsten. Verdenken kann man es ihm nicht. Der Formel 1 aber, vor allem in Deutschlan­d, hätte ein nahbarer Star gutgetan. Einer, mit dem die Massen mitfiebern, der ihr großer Held ist. So aber ist Vettel nicht.

Wie es nun weitergeht? „Ich interessie­re mich für viele Dinge“, sagt Vettel. Für die Zeit nach seinem Karriereen­de habe er schon einige Ideen. Vielleicht Studieren, auf jeden Fall mehr Zeit mit der Familie verbringen. „Ich will einfach einiges ausprobier­en“, sagte Vettel. Wer weiß: Vielleicht kommt diese Zeit schon früher als gedacht. „Ich werde in der Formel 1 nicht nur fahren, um zu behaupten, dass ich dabei bin.“Wenn er startet, will er Siegchance­n haben. Auch ums Geld gehe es ihm nicht. Kein Wunder, hat er doch zuletzt von Ferrari angeblich 30 Millionen Euro pro Saison überwiesen bekommen. Da lässt sich die ein oder andere Rücklage bilden. Nötig also hat Vettel das Rennfahren nicht mehr. Die Frage ist: Macht es ihm noch Spaß?

Bei Ferrari gerade nicht, das ist klar. Daran wird sich wohl auch am Wochenende beim Rennen in Barcelona nichts ändern. Die Kluft wird immer größer, die Stimmung vergiftete­r. Vielleicht findet die Ehe ein verfrühtes Ende. Für Vettel könnte das bald noch mehr Ruhe bedeuten. Immerhin das.

Kann man Rennfahren eigentlich verlernen?

Er ist ein Star.

Aber keiner zum Anfassen

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Foto: Will Oliver/AP, dpa Wieder nichts mit einer guten Platzierun­g: Sebastian Vettel kämpft mit sich und seinem Ferrari.

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