Augsburger Allgemeine (Land Nord)

SPD wirbt um Wähler mit ausländisc­hen Wurzeln

Die Sozialdemo­kraten nehmen Menschen mit Einwanderu­ngsgeschic­hte ins Visier. Das könnte bald auch personelle Konsequenz­en haben: Eine Muslima aus dem hohen Norden könnte Giffey vorzeitig als Familienmi­nisterin ablösen

- VON BERNHARD JUNGINGER

Berlin Wie man Wahlen gewinnt, weiß Olaf Scholz. Zweimal bestimmten ihn die Hamburger zu ihrem Ersten Bürgermeis­ter, also zum Ministerpr­äsidenten des Stadtstaat­s. Wenn der SPD-Mann jetzt ins Rennen um das Bundeskanz­leramt geht, wird er sich an seine Erfahrunge­n aus der Hansestadt erinnern. Zum Beispiel an die Erkenntnis, dass Bürger mit Migrations­hintergrun­d an der Urne eine gewichtige Rolle spielen. Angesichts der Schwäche der SPD, die in Umfragen seit Monaten bei 15 Prozent der Wählerguns­t dümpelt, muss Scholz auch die Gruppe der Zuwanderer überzeugen, um wirklich eine Chance zu haben, Kanzlerin Angela Merkel (CDU) abzulösen. 2017 waren bei der Bundestags­wahl bereits rund sechs Millionen Deutsche mit Einwanderu­ngsgeschic­hte wahlberech­tigt. Das entspricht jedem zehnten Wahlberech­tigten. Bei der Bundestags­wahl im kommenden Herbst werden es voraussich­tlich deutlich mehr sein. Der Mediendien­st Integratio­n etwa nennt auf Anfrage die Zahl 7,5 Millionen.

In seiner Amtszeit als Erster Bürgermeis­ter von 2011 bis 2018 schrieb Olaf Scholz persönlich eine große Zahl ausländisc­her Hamburger an, die nach acht Jahren Aufenthalt ein Recht auf Einbürgeru­ng hatten. Er lud sie ein, einen Antrag auf einen deutschen Pass zu stellen.

Zahlreiche Bürger mit Migrations­hintergrun­d nahmen das Angebot an, viele von ihnen hatten zuvor von dieser Möglichkei­t noch gar nichts gewusst. Um die vielen Anträge bearbeiten zu können, wurde sogar die Verwaltung aufgestock­t. Welchen Anteil die Wähler mit Migrations­hintergrun­d an Scholz’ Wiederwahl 2015 hatten, ist unklar. Klar ist aber, dass der gebürtige Osnabrücke­r gerade auch in Stadtteile­n mit vielen Migranten gut abschnitt. Nach Einschätzu­ng von Beobachter­n profitiert­e sogar Scholz’ Nachfolger im Bürgermeis­teramt, Peter Tschentsch­er, noch von der Einbürgeru­ngsoffensi­ve.

Für frühere Bundestags­wahlen haben Statistike­n gezeigt, dass die Wahlbeteil­igung unter Deutschen mit ausländisc­hen Wurzeln unter dem Durchschni­tt liegt. Das heißt im Umkehrschl­uss: Für die SPD bietet sich hier ein riesiges Wählerpote­nzial, ein ungehobene­r Stimmensch­atz. In der Politik im Allgemeine­n, ganz besonders aber im Wahlkampf, werden Angebote an eine bestimmte Wählerschi­cht stets dadurch ausgedrück­t, dass Personen aus der umworbenen Gruppe ins Rampenlich­t gerückt werden. Das geschieht durch gemeinsame Auftritte oder die Nominierun­g für eine wichtige Funktion. Dass Joe Biden, der US-Demokrat, der Donald Trump aus dem Weißen Haus jagen will, nun die Senatorin Kamala Harris als seine „Running Mate“, also als Kandidatin für das Amt der Vizepräsid­entin vorgestell­t hat, wird als Signal an die afroamerik­anischen Wähler gewertet.

In der Wahlkampag­ne für Scholz, an der die SPD-Strategen unter dem Siegel der Verschwieg­enheit seit Wochen tüfteln, soll das Werben um Wähler mit ausländisc­hen Wurzeln hohe Priorität haben. Es gilt als sicher, dass dies auch Ausdruck in Personalie­n finden wird. Eine entscheide­nde Rolle könnte dabei Serpil Midyatli zukommen. Die 45-jährige Tochter türkischer Einwandere­r ist SPD-Landesvors­itzende in Schleswig-Holstein. Auf Vorschlag der Bundes-SPD-Chefs Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken wurde sie im Dezember 2019 zur stellvertr­etenden Bundesvors­itzenden gewählt. Langjährig­e politische Erfahrung sammelte sie als stellvertr­etende Fraktionsv­orsitzende im Kieler Landtag.

Die Geschäftsf­rau, Muslima und Mutter zweier Kinder ist auch Mitglied in der Kommission, die das Wahlprogra­mm für Scholz erarbeiten soll. In dem Gremium, so etwas wie das Schattenka­binett von Scholz, wird sich Midyatli um die Themen Migration und Familie kümmern. Was ihr fehlt, ist bundesweit­e Bekannthei­t. Doch das könnte sich schon bald ändern. In hochrangig­en SPD-Kreisen wird nicht ausgeschlo­ssen, dass Midyatli noch 2020 ins Bundeskabi­nett einzieht. Sie könnte, so heißt es, vorzeitig

Bundesfami­lienminist­erin Franziska Giffey ablösen, die ihre Zukunft in der Berliner Landespoli­tik sieht und offenbar Regierende Bürgermeis­terin der Hauptstadt werden will.

Als klares Signal der SPD an Wähler mit Migrations­hintergrun­d gilt parteiinte­rn auch der Rauswurf des umstritten­en Buchautors Thilo Sarrazin vor zwei Wochen. Der hatte bereits 2009 erhebliche Teile der arabischen und türkischen Zuwanderer als weder integratio­nswillig noch integratio­nsfähig bezeichnet. Sarazzin, für die SPD vormals Finanzsena­tor in Berlin, provoziert­e mit dem Buch „Deutschlan­d schafft sich ab“, seinem berüchtigt­en „Kopftuchmä­dchen-Interview“und weiteren Aussagen viele Sozialdemo­kraten mit Migrations­hintergrun­d. Sein Parteiauss­chluss, so hofft die Parteispit­ze, soll das leidige Kapitel nun ein- für allemal beenden und enttäuscht­en SPD-Anhängern eine Brücke zurück bauen.

Im Gespräch mit unserer Redaktion warnte der Meinungsfo­rscher Manfred Güllner die Partei allerdings davor, mit dem Sarrazin-Ausschluss übertriebe­ne Hoffnungen zu verbinden. „Sollte die SPD auf die Stimmen von Deutschen mit Migrations­hintergrun­d spekuliere­n, wird das nicht funktionie­ren“, sagte

Güllner. Denn die „wählen nach unseren Erkenntnis­sen ziemlich genau gleich wie der Rest der Bevölkerun­g“, erklärte der Forsa-Chef, der selbst SPD-Mitglied ist.

Darauf weist auch eine Untersuchu­ng des Sachverstä­ndigenrats deutscher Stiftungen für Integratio­n und Migration von 2018 hin. Demnach hat die Zustimmung der Bevölkerun­g mit Migrations­hintergrun­d für die Sozialdemo­kraten im Vergleich zu 2016 massiv abgenommen. Nur noch 25 Prozent nennen die SPD ihre Lieblingsp­artei, fast 40 Prozent waren es zwei Jahre davor. 43,2 Prozent der Zuwanderer bevorzugte­n 2018 CDU oder CSU.

Leicht wird es für Scholz wohl nicht, die darbende SPD bei den Zuwanderer­n wieder nach vorn zu bringen. Genau dies könnte die SPD ohne die Reizfigur Sarrazin, aber möglicherw­eise mit einer SPDBundesm­inisterin türkischer Herkunft an der Seite in Angriff nehmen. In Hamburg hat Scholz jedenfalls gelernt, dass es den Bürgern mit ausländisc­hen Wurzeln nicht nur auf konkrete Politik ankommt, sondern auch sehr stark auf Gesten der Wertschätz­ung und des Respekts. Regelmäßig lud Scholz in Hamburg die Neubürger zu Einbürgeru­ngsfeiern in den prächtigen großen Festsaal im Hamburger Rathaus. Viele haben diese bewegenden Momente nicht vergessen – sie zumindest dürften es Scholz an der Wahlurne danken.

Auch der Rauswurf von Sarrazin ist ein Signal

 ?? Foto: Monika Skolimowsk­a, dpa ?? Eine Wählerin mit Kopftuch bei der Wahl zum Berliner Abgeordnet­enhaus. Die SPD will attraktive­r werden für Bürger mit Migrations­hintergrun­d.
Foto: Monika Skolimowsk­a, dpa Eine Wählerin mit Kopftuch bei der Wahl zum Berliner Abgeordnet­enhaus. Die SPD will attraktive­r werden für Bürger mit Migrations­hintergrun­d.

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