Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Geschiebe
Hätte irgendjemand im Sommer 2019 auch nur müde mit der Wimper gezuckt, wenn man ihm Korona angeboten hätte – für 2,93 Euro das Sechserpack? Kaum. Schließlich erfreut sich diese Gourmet-Erdbeersorte („sehr hoher Ertrag“) ähnlicher Beliebtheit wie Mieze Schindler, die „Praline unter den Erdbeeren“.
Korona aber hat die Unschuld des süßen Früchtchens verloren. Nicht nur unsere Auffassung von Korona ist von der Pandemie infiziert. Eine Bedeutungsverschiebung im Kopf gibt es auch bei einem Begriff wie Geschiebe. Sofort denkt der Mund- und Nasenbedeckte an dichtes Gedränge, an Menschenansammlungen und fehlenden Abstand. Dieser Tage begegnete uns auf einem Schild das „aktive Geschiebemanagement“. Wer da jetzt an Ordnungskräfte denkt, die Zusammenrottungen und gefährliche Gruppenbildungen unterbinden, an Aufpasser, die Abstandsregeln durchsetzen auch dort, wo es voll und eng wird, der liegt ganz falsch.
Denn das Geschiebemanagement ist keine Disziplinierungseinheit am Ballermann und auch keine dem Robert Koch Institut untergeordnete Behörde, die Großveranstaltungen, die wegen Corona alle nicht stattfinden können, auf irgendwann im Jahr 2024 verschiebt, sondern ein Fachbegriff aus der Wasserwirtschaft. An Flüssen zum Beispiel wird durch Regulierung und Flussbettgestaltung Einfluss genommen auf die vom fließenden Gewässer mitgeführte natürliche „Schleppfracht“, das Geschiebe.
Seit über einem Jahrhundert – da gab es schon Erdbeeren, aber noch kein Corona – widmet sich die geologische Wissenschaft der Geschiebekunde der Herkunft und Entstehungsgeschichte von Gesteinen, die von nordeuropäischen Gletschern nach Zentraleuropa „geschoben“wurden. Weil unsere Sprache ein einziger Verschiebebahnhof von Bedeutungen ist, darf hier die Geschiebeprothese nicht fehlen. Man trägt sie sozusagen unter der Alltagsmaske.
Es handelt sich um eine Zahnprothese, die einen Teil des Gebisses ersetzt und mit einer Spezialhalterung (Geschiebe genannt) an den noch vorhandenen Zähnen befestigt wird. Und weil beim derzeit laufenden Champions-League-Finalturnier in Portugal das K.o.-System herrscht, müssen wir uns mit der taktischen Ödnis von Ballgeschiebe hier nicht groß beschäftigen.