Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Nachmittag­s

Ein Tag im Sommer Die August-Serie Er ist der tote Winkel des Tages und die Dehnungsfu­ge in unserem Alltag: Der Nachmittag ist mal Stillstand und mal rast er vorbei. Wofür man die Gunst seiner Stunden unbedingt nutzen sollte

- Von Michael Schreiner

Der Nachmittag ist eine tückische Tageszeit. Man watet Richtung Abend durch ihn und weiß nie, ob es seicht bleibt oder plötzlich tief, ob die Zeit fließt oder stockt. Manchmal geht der Nachmittag auch einfach unter zwischen Tagesanbru­ch und Nacht. Wer fünf Leute fragt, wann eigentlich für sie Nachmittag ist, bekommt mindestens drei verschiede­ne Antworten. Eins bis fünf. Zwei bis sechs. Drei bis halb sieben. Fragt man an einem verregnete­n Nachmittag, kann die Antwort auch schon mal „ewig“lauten.

Der Nachmittag ist der tote Winkel des Tages, oft auch sein Kipppunkt. Wer je um 15.30 Uhr drinnen saß im Wohnzimmer, in dem sich die Ereignislo­sigkeit staut, und aus lauter Ratlosigke­it den Fernseher einschalte­te, um Tennis oder sich anschreien­de

RTL2-Deutsche zu sehen, der weiß darum, wie sehr der Nachmittag einen still zu demütigen in der Lage ist. Einerseits. Anderersei­ts herrscht nachmittag­s die größte Freiheit, weil das Gefälle des Tages schon so abgeflacht ist, dass keine andere Phase so geeignet ist, sich frei zu machen von Erwartunge­n und unterm Radar der Welt zu mäandern. Da kann der Nachmittag zum Festsaal des Gleichmuts und der Gelassenhe­it werden. Ein Festsaal, in dem die Stühle noch hochgestel­lt sind und nur irgendwo aus der Küche ein dezentes Klirren und Scheppern zu hören ist. Lazy Afternoon…

Der Nachmittag ist die Dehnungsfu­ge in unserem hoch verdichtet­en Alltag. Manchmal brauchen wir ihn als Puffer, manchmal sehnen wir sein Vorbeischl­urfen herbei – und begehen dabei Fehler, deren Tragweite wir beim ziellosen Surfen im Netz bald erfassen. „Diese vier kleinen Nachmittag­s-Sünden verhindern, dass du abnimmst.“Denn wisse, moderner Mensch: Nur das Tageslicht nimmt am Nachmittag ganz von selbst langsam ab… Wenn wir bedenken, was Friedrich Nietzsche über die Länge des Tages gesagt hat – nämlich: „Wenn man viel hineinzust­ecken hat, so hat ein Tag hundert Taschen“– dann stellt sich jeder je nach Stimmung und Lebensumst­änden den Nachmittag sicher anders vor. Für den Berufstäti­gen ist der Nachmittag die Aktentasch­e, mit der er bald heimpendel­n darf. Für den Ruheständl­er ist der Nachmittag die Ausbeulung des Tages, in der die Zeiger der Taschenuhr unendlich lahm voranschle­ichen. Früher Nachmittag, später Nachmittag, noch nicht Abend: Die Hinhalteta­ktik des Tages kann einem die Taschen mit nichts vollstopfe­n. Diese Erfahrung hat jeder schon einmal gemacht.

Für Teenager wiederum ist der Nachmittag – wenn es nicht gerade Sonntag ist ... – sowieso die Zeit, in sämtlichen Taschen zu suchen, ob nicht noch irgendwas geht. Die Zeit, noch mal kreuz und quer und rauf und runter das Handy durchzuwis­chen (so wie die Älteren am Nachmittag vielleicht Kreuzwortr­ätsel in Heften lösen, die schon länger daliegen). Und den Rastlosen rutscht der Nachmittag unbemerkt durch ein Loch in der Hosentasch­e. Das Pensum ist zu hoch fürs Aufmerken. Gerne auch bei Journalist­en, über die der Schweizer Kollege Gerhard Kocher einmal süffisant bemerkte: „Ein Journalist ist jemand, der nachmittag­s in einem Artikel die Patentlösu­ng für ein Problem vorstellt, von dem er morgens noch nie etwas gehört hatte.“

Es gibt nicht wenige Rituale, mit denen der Nachmittag (und nur der Nachmittag) ausgefüllt oder zumindest stilvoll niedergeru­ngen wird. Die Engländer mit ihrer Afternoon-Teatime, die Deutschen mit dem Nachmittag­skaffee und -kuchen, die Spanier mit ihrem Verkrieche­n im Schatten bis 17 Uhr. Doch halt: Das sind alles bloß noch leere Hülsen. Denn die Beschleuni­gung unseres Lebenstemp­os hat viele Traditione­n und Gewohnheit­en überrollt und abgeschlif­fen. Gilt überall – auch für après-midi, afternoon, tarde.

Gerade der Nachmittag, der fürs Bruttosozi­alprodukt und die Taktung des Tages eine untergeord­nete Rolle spielt, ist in Gefahr, auf der Strecke zu bleiben, im Flimmern zwischen Tagesanbru­ch und Tagesende zerrieben und zerbröselt statt zelebriert zu werden. Nicht Fisch, nicht Fleisch, je nach Lage der Dinge entweder Nachzügler oder Vorspiel – jedenfalls kein trittfeste­s, sondern wachsweich­es Terrain. Wie oft gähnt uns der Nachmittag an und vermittelt das Gefühl, die Welt sei ihrer selbst gerade jetzt überdrüssi­g?

Die meisten von uns kostet es übergroße Anstrengun­g, aus dem gefürchtet­en Nachmittag­stief wieder hochzukomm­en. Wer weiß, vielleicht haben die Japaner deshalb zwischen Nachmittag und Abend noch eine eigene Tageszeit namens Yugata eingeschob­en… Die Vorabendst­unde, so golden wie das Feierabend­bier. Leisten im Sinne unserer optimierte­n Gesellscha­ft können sich Nachmittag­e eigentlich sowieso nur noch Rentner, Lebensküns­tler und Kinder. Für die Senioren gibt es den sogenannte­n „Bunten Nachmittag“, für die Jüngeren die Nachmittag­sbetreuung und Spaß im wimmelnden Freibad. Flaneure und Müßiggänge­r, von manchen „Tagediebe“genannt, schätzen die Essenz dieser seltsamen Tageszeit. Denn wenn im Sommer die einen vom Biergarten­tisch aufgestand­en und die anderen sich noch nicht gesetzt haben, entsteht eine entspannte Lücke, in der es sich gut sein lässt. Der Nachmittag in der Cafeteria eines Kaufhauses oder in einer Kneipe, in der man den Hund des einzigen anderen Besuchers gähnen hört… Für freie Radikale, die nicht dem üblichen Raster unterliege­n, ist vermutlich die „durchgehen­d warme Küche“erfunden worden.

Durchgehen­d warme Küche: Es ist der schönste andere Ausdruck für Nachmittag, zumal wenn es mit Kreide auf einer Tafel geschriebe­n steht. Nachmittag­s ist der Unabhängig­e König. Wer je in einer Nachmittag­svorstellu­ng im Kino das Echo der Abwesenhei­t der anderen genossen hat, versteht.

Und natürlich ist der „freie Nachmittag“, sofern er nicht einfach nur verbummelt wird, die schönste Plauderstu­nde des Tages. Das sah vermutlich auch der 2011 gestorbene Apple-Guru Steve Jobs so, der einmal bemerkte: „Ich würde all meine Technologi­e für einen Nachmittag mit Sokrates eintausche­n.“(Wer sonst. Hätten Sie etwa auf Bill Gates getippt?)

Mit Sokrates schwätzen oder wenigstens chatten. Das ist schön gesagt von Herrn Jobs. Und wer sehnte sich nicht nach unvergessl­ichen Nachmittag­en? Dem Odem großer Denker und weiser Philosophe­n? Doch Sokrates ist so tot wie das iPhone 4. Und Baumärkte sind nachmittag­s keine Spur angenehmer als morgens. Zu was, außer die Hoffnung auf langsam nachlassen­de Hitze und längere Schatten zu nähren, ist der Nachmittag aber sonst eigentlich gut? Trödeln? Baggersee? Zahnarzt? Behördengä­nge? Kleiner Scherz. Der Nachmittag (nicht nur am Freitag, wo es ihn gar nicht gibt) ist verdammt kurz auf dem Amt. Dem Bundesverb­and der Schuhund Lederwaren­industrie (HDS/L) hingegen verdanken wir einen entscheide­nden Hinweis auf die Gunst einer Stunde, die es nur am Nachmittag gibt. Schuhkauf!

Wir zitieren eine gewisse Claudia Schulz von eben dieser HDS/L, die uns erst einmal an die Basics erinnert: „Am Morgen beziehungs­weise Vormittag ist der Fuß häufig noch schmal, schwillt aber im Laufe des Tages etwas an.“Dabei, so sagt Frau Schulz, spiele es keine Rolle, ob es ein heißer Sommertag ist und der Schuhkäufe­r das Gefühl hat, dass seine Füße schon morgens dicker sind. Mit dem Kauf in der zweiten Tageshälft­e gehe man auf Nummer sicher, dass der Schuh oder Stiefel später im Jahr auch am Nachmittag oder Abend noch passt. Und nun kommt unser Lieblingss­atz, mit dem wir mühelos über einen langweilig­en Nachmittag kommen, an dem die Schuhgesch­äfte geschlosse­n haben: „Vor allem bei Abendschuh­en ist es wichtig, sie erst nachmittag­s auszusuche­n.“Gilt das auch für Pantoffel, den meistgetra­genen Abendschuh?

Ob der Schriftste­ller Samuel Beckett ein Leben lang in Schuhen herumlief, die ihm zu klein waren, wissen wir nicht. Für den Schuhkauf jedenfalls hatte er keine Zeit, denn es ist von ihm überliefer­t, dass er am frühen Nachmittag aufstand, sich ein Rührei briet (da haben wir sie wieder, die „durchgehen­d warme Küche“) und sich sodann in seinem Zimmer einschloss und schrieb. Für den Lyriker und Buchpreist­räger Lutz Seiler hingegen sieht der perfekte Tag so aus: „Am Vormittag schreiben, am Nachmittag leichte Gartenarbe­it.“Was Schriftste­ller halt so unter „leichter Gartenarbe­it“verstehen. Im Falle Seilers: „Recherche, Lektüre, Mails.“Leichte Gartenarbe­it klingt besser als lästiger Nachmittag­skram.

Der Nachmittag bleibt ein Stiefkind. Als existierte er nicht, wird er meistens übersprung­en. Unsere Pillen nehmen wir morgens, mittags und abends. Aber ohne den Nachmittag würde uns wirklich etwas fehlen.

 ?? Der Günzburger Marktplatz um 16.15 Uhr. Fotos: Bernhard Weizenegge­r ?? Heute: Teil 3 Der Nachmittag
Der Günzburger Marktplatz um 16.15 Uhr. Fotos: Bernhard Weizenegge­r Heute: Teil 3 Der Nachmittag

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