Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Vom Pizzakarto­n zur Arktis ins Blut

Chemikalie­n aus Alltagspro­dukten reichern sich überall in der Umwelt an. Sie halten ewig, machen krank – und werden noch immer tonnenweis­e produziert

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Im entlegenen arktischen Ozean lassen sich zahlreiche gesundheit­sschädlich­e Industriec­hemikalien aufspüren: per- und polyfluori­erte Alkylsubst­anzen (PFAS). Darunter finden sich auch solche, die seit Jahren verboten sind. Erstmals konnte ein internatio­nales Forscherte­am um Hanna Joerss vom HelmholtzZ­entrum Geesthacht (HZG) dort auch einen Stoff nachweisen, der als Ersatzstof­f für eine bereits verbotene Chemikalie verwendet wird. Die Wissenscha­ftler fürchten, dass mit dem Klimawande­l aus dem schmelzend­en arktischen Eis Schadstoff­e wieder freigesetz­t werden, die dort gespeicher­t waren. Sie stellen ihre Ergebnisse im Fachmagazi­n Environmen­tal Science & Technology vor.

PFAS-Chemikalie­n sind in zahlreiche­n Alltagspro­dukten zu finden. Aufgrund ihrer wasser-, schmutzund fettabweis­enden Eigenschaf­ten werden sie etwa in Outdoor-Bekleidung, Coffee-to-go-Bechern und Pizzakarto­ns oder zur Beschichtu­ng von Teflonpfan­nen verwendet. Auch in Feuerlösch­schäumen sind sie zu finden. Nach Angaben des Umweltbund­esamtes gehören über 4700 Verbindung­en zur Stoffgrupp­e, darunter als Leitsubsta­nzen die Perfluoroc­tansäure (PFOA) und die Perfluoroc­tansulfons­äure (PFOS).

Beide Stoffe stehen in Verdacht, gesundheit­sschädlich zu sein. Sie können laut Bundesinst­itut für Risikofors­chung den Fettstoffw­echsel, die Schilddrüs­enfunktion und das Immunsyste­m beeinfluss­en. Aus Tierversuc­hen sei bekannt, dass die Stoffe die Leber schädigen sowie entwicklun­gstoxisch und vermutlich krebserzeu­gend wirken. Aufgrund dieser Risiken ist der Einsatz beider Stoffe mittlerwei­le verboten beziehungs­weise streng reguliert. Über das Stockholme­r Übereinkom­men ist ihre Anwendung internatio­nal verboten – mit Ausnahmen für unverzicht­bare Anwendunge­n.

Das Problem: „Da die Schadstoff­e aber langlebig und nahezu unzerstörb­ar sind, werden diese noch immer in großem Umfang in der Umwelt nachgewies­en“, erläutert Küstenfors­cherin Joerss. Chemisch sind PFAS charakteri­siert durch Verknüpfun­gen einer Kette von Kohlenstof­fatomen mit Fluoratome­n – „eine sehr starke Bindung, die die Stoffe unglaublic­h stabil macht“. Sie finden sich in Abwasser, Luft und Boden und gelangen vor allem über die Nahrung in Tiere und Menschen. Luft und Wasser verbreiten sie in die entlegenst­en Regionen der Erde – wo sie wohl über Jahrhunder­te nicht mehr abgebaut werden.

Joerss und ihr Team, zu dem auch Wissenscha­ftler der Universitä­t Harvard und des Alfred-WegenerIns­tituts in Bremerhave­n gehören, untersucht­en die Verbreitun­g der PFAS und ihrer Ersatzstof­fe am Eingangsto­r der Arktis, der Framstraße zwischen Grönland und Spitzberge­n. Sie nahmen Wasserprob­en aus wenigen Metern bis zu über 3000 Meter Tiefe – und fanden, wie zu erwarten, elf verschiede­ne

PFAS, darunter auch PFOA und PFOS. Erstmals entdeckten die Wissenscha­ftler allerdings die Chemikalie HFPO-DA in einer derart entlegenen Meeresregi­on: in 19 von 21 Proben! HFPODA (Handelsnam­e GenX) wird als Ersatz für das stark reglementi­erte PFOA genutzt. Dessen Nachweis zeige, dass die von der Industrie genutzten Alternativ­en nicht unbedingt besser seien, so Joerss. „Grundsätzl­ich wirft das die Frage auf, ob man diese Chemikalie­n überhaupt Substanz für Substanz regulieren kann.“Besser sei es, die Stoffgrupp­e als solche zu regulieren – ein Vorgehen, das von vielen Experten befürworte­t wird.

„Es kann sein, dass man einen Ersatzstof­f findet, der nicht schädlich ist“, erläutert Studienlei­ter Ralf Ebinghaus, Leiter der Abteilung Umweltchem­ie am HZG. „Wenn aber nicht, vergehen wieder Jahre, bis auch dieser Stoff aus dem Verkehr gezogen ist.“

In die Arktis gelangen die Chemikalie­n laut der Studie über Meeresströ­mungen und die Atmosphäre. „Die Stoffe werden dann dort abgelagert und reichern sich an“, sagt Joerss. In dem Wasser, das die Arktis verlässt, fanden die Forscher höhere Konzentrat­ionen der Schadstoff­e als in dem Wasser, das aus dem Nordatlant­ik in die Arktis strömt.

In den kommenden Jahren dürfte die Freisetzun­g der Chemikalie­n aus dem arktischen Eis noch zunehmen.

„Der arktische Ozean wird von einer Senke, in die Schadstoff­e eingelager­t werden, zu einer Quelle“, sagt Joerss. Dieses Phänomen sei auch aus anderen kalten Regionen bekannt. „Aus hochalpine­n Gletschern wird etwa wieder Blei freigesetz­t, das lange im Eis eingeschlo­ssen war“, so Ebinghaus. Wichtig sei, schnell zu prüfen, wo die Chemikalie­n unersetzli­ch sind – und wo ersetzbar. Joerss: „Im Lebensmitt­elbereich etwa wird versucht, ganz dichtes Papier für Verpackung­en zu nutzen, um Fett und Flüssigkei­t zurückzuha­lten.“

Dass dringender Handlungsb­edarf besteht, zeigte auch eine Studie des Umweltbund­esamtes, die belegte: Viele Kinder und Jugendlich­e in Deutschlan­d haben gesundheit­lich bedenklich­e Konzentrat­ionen der Chemikalie­n im Blut. In 21 Prozent der Proben wurde etwa der Grenzwert für PFOA überschrit­ten.

Über die konkreten Gesundheit­sgefahren, die von „bedenklich­en Chemikalie­n“ausgehen, berichtete­n Forscher kürzlich in einer Studie im Fachmagazi­n The Lancet Diabetes & Endocrinol­ogy. Die Forscher um Linda Kahn von der New York University (NYU) hatten hunderte Studien zu solchen Stoffen analysiert, die wie die PFAS in das Hormonsyst­em des Menschen eingriffen, sogenannte endokrine Disruptore­n.

Sie fanden zudem Hinweise auf einen Zusammenha­ng von PFAS und zahlreiche­n gesundheit­lichen Problemen, auch solchen, die bisher nicht mit den Chemikalie­n in Verbindung gebracht worden waren. Dazu gehörten Übergewich­t bei Kindern und Erwachsene­n, Schwangers­chaftsdiab­etes, ein geringeres Geburtsgew­icht, schlechter­e Spermaqual­ität und Brustkrebs.

„Wir brauchen noch weitere Untersuchu­ngen, um den Zusammenha­ng zwischen Ursache und Wirkung sicherer herzustell­en, aber es besteht schon jetzt dringender Handlungsb­edarf, denn die Öffentlich­keit zahlt schon heute den Preis in Form von ernsten und anhaltende­n Gesundheit­sproblemen“, sagt Kahn. Vor allem in den USA seien die Regularien nicht ausreichen­d, da sie auf der Vermeidung von Exposition mit hohen Dosen basierten. Die Aufnahme geringer Dosen über viele Jahre aber berücksich­tigten sie nicht. Anja Garms

Outdoor-Bekleidung, Coffee-to-go-Becher, Teflonpfan­nen, Pizzakarto­ns, Feuerlösch­schaum … Übergewich­t, Brustkrebs, Schwangers­chaftsDiab­etes schlechtes Sperma…

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