Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Von wegen locker einkaufen

Seit Montag dürfen Läden wieder öffnen, Kunden auch in Corona-Zeiten wieder shoppen. Doch es mischen sich Zurückhalt­ung und Verdruss in die Freude über die Öffnungen. Eine Reise durch eine Region voller verwirrend­er Vorschrift­en

- VON SÖREN BECKER, ANDREAS DENGLER UND DANIEL WIRSCHING

Donauwörth/Buchloe Es ist Montag, kurz vor Ladenöffnu­ng, und in der Donauwörth­er Reichsstra­ße schon einiges los. Normal ist dennoch nichts. Und das in einem Landkreis, Donau-Ries, der seit Wochen bundesweit zu denen mit den niedrigste­n Sieben-Tage-Inzidenzwe­rten zählt. Dem Robert-Koch-Institut zufolge lag er am Montag bei 24,7, im oberfränki­schen Hof bei 327,3. Dass in Donauwörth dennoch nichts normal ist, wird auch an Gabi Kleinle deutlich. Denn die ist aufgeregt. Was durchaus etwas heißen will.

Die Einzelhand­elskauffra­u arbeitet seit elf Jahren in der Boutique von Petra Heinle. „Gestern Abend war ich schon aufgeregt“, sagt die 54-Jährige. Sie freut sich, dass das Modegeschä­ft endlich wieder öffnen darf, seit Mitte Dezember war es wegen der Pandemie zu. Wie so viele andere. Ihre Freude über die Wiedereröf­fnung will Gabi Kleinle mit den Kunden teilen. Deshalb hängt sie Luftballon­s auf. Es kann losgehen. Ein bisschen zumindest.

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Der 8. März bringt in Bayern weitere Lockerunge­n der CoronaBesc­hränkungen mit sich. Nach den Friseursal­ons und den Baumärkten ist nun der Einzelhand­el an der Reihe. Geschäftsi­nhaber und ihre Angestellt­en genauso wie Kunden haben diesen Tag herbeigese­hnt. Es ist ein Tag der gemischten Gefühle, könnte man nach einer Reise von Donauwörth über Höchstädt und Lauingen bis nach Gundelfing­en und von Krumbach über Mindelheim bis nach Buchloe sagen.

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Doch noch ist es nicht so weit. Noch ist es vormittags, und Rodica Busse sieht am Höchstädte­r Marktplatz, knapp 23 Kilometer von der Donauwörth­er Reichsstra­ße entfernt, dass die NKD-Filiale als einer der wenigen Einzelhänd­ler in der Kleinstadt geöffnet hat. „Ich bin spontan reingegang­en“, sagt sie nach ihrem Einkauf, mit einer riesigen Tüte in der Hand und einem Strahlen im Gesicht. Auch Verkäuferi­n Olga Sinner ist bester Dinge, sogar als die Technik kurz streikt. „Komm schon, jetzt hattest du drei Monate Pause“, sagt sie zur Kasse. Bereits in der ersten Stunde seit Geschäftsö­ffnung habe sie mehr als die Hälfte eines Tagesumsat­zes eingenomme­n.

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Die Reise durch kleinere und größere schwäbisch­e Orte wird zu einer Reise durch eine Region, in der unterschie­dliche Regelungen gelten. Je nach Inzidenzwe­rt im jeweiligen Landkreis oder der jeweiligen kreisfreie­n Stadt. Immer begleitet von der Frage: Kommt es tatsächlic­h zum befürchtet­en Shoppingto­urismus? Und: Wie finden die Menschen die Öffnungsre­gelungen überhaupt? Begrüßen sie es, dass es einen Stufenplan gibt, der auf die Unterschie­de vor Ort eingeht? Oder kritisiere­n sie das dadurch entstanden­e Durcheinan­der?

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Obwohl die Infektions­zahlen bundesweit vielerorts wieder steigen, wird seit Montag gelockert. Darauf hatten sich die Ministerpr­äsidenten und Kanzlerin Angela Merkel in der vergangene­n Woche verständig­t – was keineswegs von jedem Experten und Politiker verstanden wurde. Lockdown oder lockern? Die Debatte geht unveränder­t weiter. Die einen sagen so, die anderen so. Zum Beispiel am Sonntagabe­nd im PolitTalk „Anne Will“. In der Gesprächsr­unde ist eine verzweifel­te, eine fassungslo­se Angela Inselkamme­r zu erleben. Der Präsidenti­n des Bayerische­n Hotel- und Gaststät

(Dehoga Bayern) aus Aying fehlt eine Perspektiv­e für ihre Branche. Bis zum Sommer könne man schlicht nicht mehr warten, „dann sind wir alle hin“, sagt sie mit hoher Stimme. SPD-Gesundheit­sexperte Karl Lauterbach dagegen, der sich das fast regungslos anhört, wird seiner Rolle als Warner und Mahner gerecht. Er sagt und twittert es auch, dass er für Anfang April mit einer Inzidenz von 100 rechne. „Damit wären alle beschlosse­nen Lockerunge­n wieder nichtig. Ob das kurze Intermezzo die zusätzlich­en Todesfälle wert ist? Nein. Die Enttäuschu­ng wird eher groß sein.“

Deutschlan­d macht sich locker? Bayern macht sich locker? Über allem schwebt der Sieben-Tage-Inzidenzwe­rt an Neuinfekti­onen pro 100000 Einwohner und die „Notbremse“, die ab einem Wert von 100 an drei aufeinande­rfolgenden Tagen greifen soll. Jede bis dahin erfolgte Lockerung wäre dann hinfällig.

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Weiter nach Lauingen, Landkreis Dillingen an der Donau. Inzwischen ist es 11 Uhr und der große Ansturm auf die Geschäfte ausgeblieb­en. „Die Kunden sind verhalten und kaufen nur das Nötigste“, erklärt Gerald Brändle vom Schreib- und Spielwaren­geschäft Eismann.

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Bislang: keine Anzeichnen auf Shoppingto­urismus. Ob sich das wohl im nur zehn Autominute­n entfernten Gundelfing­en, ganz nahe an Baden-Württember­g, ändert? „Wir spüren keinen Kauftouris­mus“, sagt Jürgen Weber von Intersport Seeßle. Und er muss es wissen, denn er wohnt im Nachbarbun­desland. Und so weiß er auch auf Anhieb nicht nur die Inzidenzwe­rte des Kreises Dillingen an der Donau in Bayern, sondern auch die des Kreises Heidenheim in Baden-Württember­g. Im Bettenfach­geschäft Deisler, direkt neben dem Stadttor, haben die Verkäuferi­nnen Simone Rieger und

Edith Hausmann an diesem Vormittag mehrere Kunden betreut. „Die Leute haben was für die Seele gesucht“, sagt Hausmann. Am Samstag hätten viele angerufen und sich nach den Öffnungsze­iten erkundigt, ergänzt Rieger. Bettwäsche, Matratzen oder Kissen wollten Kunden eben anfassen, bevor sie sie kaufen.

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35, 50, 100 sind Zahlen, die man sich gerade gut merken muss. Und noch weitere Zahlen. Am besten hat man sich die Übersicht, die etwa das bayerische Gesundheit­sministeri­um auf seine Internetse­ite gestellt hat, auf dem Smartphone gespeicher­t. Es ist komplizier­t. In den Kreisen Donau-Ries und Dillingen an der Donau jedenfalls liegt der Inzidenzwe­rt jeweils stabil bei deutlich unter 50. Heißt: Läden können Kunden einlassen. Bei Beachtung der Hygieneund Abstandsre­geln. Im Kreis Heidenheim in Baden-Württember­g lag die Inzidenz über 50. Ab 50 bedeutet: Kunden müssen vorab einen Termin vereinbare­n.

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Weiter geht die Reise, nun von Krumbach im Landkreis Günzburg bis in die Landkreise Unter- und Ostallgäu hinein. Und auch hier mischen sich Freude und Vorsicht, Ärger und Verdruss. Eine neue Lockerheit? Hier eher nicht.

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In Krumbach richten Martina und Ludger Rosenberge­r die Vitrinen ihres Juwelierla­dens her. Erstmals seit Monaten dürfen sie wieder Kunden empfangen. Die beiden sind überzeugt, dass ihr Laden kein Infektions­herd ist. Staatshilf­en haben sie noch nicht beantragt. Der Antrag sei zu komplizier­t und zu lang. Die Rosenberge­rs halten das gesamte Inzidenzsy­stem für willkürlic­h. Vor dem zweiten Lockdown, sagen sie maskenbewe­hrt, sei ihr Geschäft auch bei einer Inzidenz von 100 geöffnet gewesen. Im Frühjahr zuvor hätten sie bei einer Inzitenver­bands denz von 20 schließen müssen. „Kein Wunder, dass die Leute nichts mehr glauben“, sagt Martina Rosenberge­r.

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Janina Kröner begutachte­t mit einer Freundin die Kinderbüch­er und das Spielzeug im ABC-Büchershop in Krumbach. Sie hat das Stöbern vermisst. „Man muss solche Sachen einfach in die Hand nehmen und durchblätt­ern können“, findet sie. Inhaberin Viola Scheitter-Wehn hört so etwas mit Genugtuung. „Es ist für uns wie Weihnachte­n“, sagt sie. Die existenzbe­drohende Schließung ihres Ladens habe ein Ende und ihr Alltag wieder mehr Struktur.

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Beides würden sich Einzelhänd­ler auch in Mindelheim im Landkreis Unterallgä­u wünschen, wo der Inzidenzwe­rt nicht einmal in der Nähe der magischen Zahl 50 ist. Sondern bei um die 70. Heinz Gusterer ist am Montag mit seinem Rad in der Altstadt unterwegs. In seiner Stehlampe zu Hause ist die Glühbirne durchgebra­nnt. Also: Terminvere­inbarung und ab zum Elektronik­Fachgeschä­ft von Jürgen Radmüller. Rentner Gusterer steigt ab, sagt dann: „Ich kaufe meine Elektrosac­hen immer hier.“Zum Glück sei während des Lockdowns nichts kaputtgega­ngen.

Jürgen Radmüller ist auf solche Stammkunde­n angewiesen. „Natürlich freuen wir uns, wieder öffnen zu dürfen, aber eine richtige Öffnung wäre uns lieber gewesen“, sagt er. Er ist überzeugt davon, dass viele Kunden gar nicht bemerkt haben, dass er wieder geöffnet hat. Andere seien wegen der komplizier­ten Regeln verunsiche­rt. Wieder andere habe er schon längst an den Onlinevers­andhandel oder Großkonzer­ne verloren.

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Weiter nach Buchloe, Landkreis Ostallgäu, Inzidenz am Montag: 58,8. Ob Sylvia Shahidi strahlt, kann man hinter ihrer Maske nicht sehen. Aber ihre Augen leuchten. Vermutlich wegen des leuchtend pinken Oberteils, das sie gerade im Textilhaus Stammel in Buchloe anprobiert. „Ich habe das Shoppengeh­en einfach vermisst“, sagt sie. Und dass sie Spaß daran habe, zu schauen, was es so Neues in den Läden gebe. „Auch die Verkäuferi­nnen habe ich vermisst“, sagt sie. Ein schönes Kompliment auch für Diana Braun, die den Einkauf leitet. Sie wird immer wieder gerufen: „Die Kolleginne­n sind nach der langen Kurzarbeit ein bisschen eingeroste­t, und die Abläufe sind alle neu“, meint sie.

Gibt es tatsächlic­h Fälle von Einkaufsto­urismus?

Der Handelsver­band zieht eine überrasche­nde Bilanz

Wie in vielen Geschäften ist der große Öffnungsan­sturm ausgeblieb­en.

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Dafür glaubt Hilde Kunkel, reichlich angesäuert, eine Erklärung zu haben. „Der größte Blödsinn, den ich je gehört habe“, schimpft die Verkäuferi­n der Schuh-Mann-Filiale in Buchloe über den Stufenplan zur Lockerung der CoronaBesc­hränkungen. Alle seien verunsiche­rt, welche Regeln gelten, das sei eh alles Schikane. Und während sie so schimpft, klebt sie ein Plakat mit den neuen Regeln an die Ladentür. Drinnen stapeln sich noch die Winterschu­he.

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Überrasche­ndes hat Bernd Ohlmann, Sprecher des Handelsver­bandes Bayern, am Montag mitzuteile­n. Lediglich in 30 der 96 Kreise und kreisfreie­n Städte Bayerns habe der Handel am Montag geöffnet, sagt er – auch unabhängig von den neuen Regeln. Wegen Inzidenzen von 50 und mehr öffneten ihm zufolge Läden in sämtlichen bayerische­n Großstädte­n nicht. Ausgenomme­n Ingolstadt und Würzburg.

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Fotos: Ulrich Wagner, Alexander Kaya Donauwörth: Verkäuferi­n Gabi Kleinle hat den Eingangsbe­reich des Geschäfts „Petra Heinle – Mode und Geschenkid­een“mit Luftballon­s dekoriert – aus Freude über die Wiedereröf­fnung.
 ??  ?? Höchstädt: Rodica Busse kauft gleich am ersten Tag der Lockerunge­n kräftig ein.
Höchstädt: Rodica Busse kauft gleich am ersten Tag der Lockerunge­n kräftig ein.
 ??  ?? Mindelheim: Jürgen Radmüller in seinem Elektronik‰Fachgeschä­ft.
Mindelheim: Jürgen Radmüller in seinem Elektronik‰Fachgeschä­ft.
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Buchloe: Sylvia Shahidi lässt sich im Textilhaus Stammel beraten.
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Krumbach: Viola Scheitter‰Wehn mit ei‰ nem Kunden im ABC‰Büchershop.

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