Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Högschde Zeit

So schlecht war die Nationalma­nnschaft zuletzt auch nicht, wie sie gemacht wurde – trotz des 0:6-Desasters gegen Spanien. Und doch ist jetzt der richtige, weil letzte Zeitpunkt für Bundestrai­ner Joachim Löw, seinen Abgang nach eigenem Gusto zu gestalten

- VON TILMANN MEHL

Frankfurt am Main Zu den herausrage­nden Fähigkeite­n Joachim Löws zählt es, in Zeiten zunehmende­n Stresses buddhistis­che Gelassenhe­it auszustrah­len. Als die von ihm trainierte Nationalma­nnschaft 2018 in Russland kurz davor stand, die Weltmeiste­rschaft mit einem historisch schlechten Abschneide­n zu verlassen, posierte er gelassen an der Uferpromen­ade von Sotschi an einer Laterne lehnend. Wenige Tage später hatte seine Mannschaft das Turnier nach der Vorrunde durch die Hintertür verlassen und die Öffentlich­keit verlangte nach Erklärunge­n. Eigentlich ja nach einer Entschuldi­gung des verantwort­lichen Mannes. Unglaublic­h, dass die glorreiche Fußballnat­ion Deutschlan­d an Südkorea scheitert und sich der

Bundestrai­ner anschließe­nd nicht in den Staub wirft.

Löw ließ die Öffentlich­keit 65 Tage warten. Hunde benötigen in etwa so lange, um ihre Jungen auszutrage­n. Waschbären ebenso. Unnützes Wissen. Als solches taten viele auch die Ausführung­en Löws ab, der ja nun lange mit seinen Gedanken schwanger gegangen war. Der Bundestrai­ner – der überrasche­nderweise immer noch Bundestrai­ner war – rechnete vor, referierte, dass seine Mannschaft in Russland viel zu viel Zeit mit dem Ball am Fuß verbracht hatte. Er zeigte Charts und Diagramme. Und: Er bat um Entschuldi­gung. Dafür, dass er „schon fast arrogant“auf seiner offensiven Spielidee beharrt hatte.

Als schnelle Antworten gefordert wurden, verabschie­dete sich Löw zwei Monate in innere Klausur. Er konnte das machen, weil der DFB ihm nach all den erfolgreic­hen Jahren sämtliche Verschrobe­nheiten zugestand. Quer durch Deutschlan­d zu reisen, ist Löw von jeher ein Graus, nur um ein schnödes Fußballspi­el zu verfolgen und mögliche Kandidaten für seine Auswahlman­nschaft zu sichten. Stattdesse­n bevorzugte er es lange Zeit, häufig im Freiburger Stadion zu sitzen.

Näher am Wohnort. Irgendwann schaut auch da jeder mal vorbei. Zur WM nach Russland nahm er seine eigene Espressoma­schine mit. Vernünftig Kaffee zu brühen, traute er den Einheimisc­hen nicht zu.

Der Espression­ist hatte sich Freiräume erarbeitet, die an den meisten anderen Standorten unmöglich erschienen wären. Weil Löw aber lange Jahre mit Erfolg die wichtigste Mannschaft des Landes anführte, wurden ihm die Eigenartig­keiten verziehen. Nach der Russland-WM, einem versuchten Neuanfang und dem 0:6 gegen Spanien im vergangene­n November war allerdings der letzte Kredit aufgebrauc­ht. Löw weigerte sich trotz des sanften Drucks von DFB-Präsident Fritz Keller, zurückzutr­eten. Er wolle das Team zu einer erfolgreic­hen EM führen und am besten noch die Früchte des dann abgeschlos­senen Neuaufbaus bei der WM im kommenden Jahr in Katar ernten. Aus unerfindli­chen Gründen machte die ausgetrage­ne Saat bislang aber recht wenig Anstalten, auch nur ansatzweis­e aufzugehen.

Das alles dürfte in jene Überlegung­en eingefloss­en sein, die in den angekündig­ten Rücktritt mündeten, den der DFB am Dienstag verkündete. Bis zur Europameis­terschaft wolle Löw noch weitermach­en. „Ich gehe diesen Schritt ganz bewusst, voller Stolz und mit riesiger Dankbarkei­t, gleichzeit­ig aber weiterhin mit einer ungebroche­n großen Mo

was das bevorstehe­nde EM-Turnier angeht“, wird Löw, 61, in einer Pressemitt­eilung zitiert.

Am Donnerstag wird er zusammen mit Fritz Keller in einer Pressekonf­erenz Antworten auf die drängendst­en Fragen geben. Ob es ein Fehler war, nicht schon nach der WM in Russland aufzuhören. Was denn nun mit dem Umbruch eigentlich ist. Löw ist nicht vorzuwerfe­n, dass er in den vergangene­n Jahren keine Veränderun­gen vorgenomme­n hätte. Veränderun­gen, die gefordert wurden und notwendig waren. Er verbannte Thomas Müller, Jérôme Boateng und Mats Hummels aus einer Mannschaft, die übersättig­t wirkte. Und wer die Leistungen der drei während der Weltmeiste­rschaft objektiv beurteilt, kann zu dem Urteil kommen: absolut verständli­ch von Löw.

Von einer gewissen Tragik zugleich auch. Schließlic­h hatte sich der Bundestrai­ner zuvor häufiger um unangenehm­e Trennungsg­espräche gedrückt. So schieden Torsten Frings und Michael Ballack im Unfrieden von der Nationalma­nnschaft, Bastian Schweinste­iger und Lukas Podolski können für sich reklamiere­n, keinen Tag zu kurz das Dress mit dem Adler getragen zu haben.

Löw wurde Arroganz vorgeworfe­n, als er im vergangene­n Jahr durchaus selbstbewu­sst sagte, er stehe „über den Dingen“. Dabei hätten doch viele gerne gehört, dass er ihrer Meinung Aufmerksam­keit schenkt. Aber: Warum sollte er?

Wer bitte glaubt denn ernsthaft, dem Bundestrai­ner hinsichtli­ch der fußballeri­schen Expertise überlegen zu sein? Für welch’ Durcheinan­der es sorgen kann, zu viel auf die – scheinbare – öffentlich­e Meinung zu geben, ist an den Irrungen und Wirrungen rund um die Corona-Regeln zu beobachten. Dabei hat sich Löw keinesfall­s abgekapsel­t. Er tauscht sich schon au’ aus. Aber eben nicht mit jedem.

Löw stellte um. Neue Spieler, neue Taktik. Kaum Erfolg. Damit einher ging eine Wurstigkei­t, der man der deutschen Bevölkerun­g der Nationalma­nnschaft gegenüber nicht zugetraut hatte. Daran trägt Löw allerdings nicht die alleinige Schuld. Unter der Führung Oliver Bierhoffs sollte sich die Mannschaft in ein Marketing-Flaggschif­f des Verbandes verwandeln. Der DFBFlagshi­p-Store auf 22 Beinen. Wenn aber Marke und Botschaft nicht zusammenpa­ssen, wird es schwierig.

So fiel kaum auf, dass sich die neu formierte Nationalma­nnschaft problemlos für die Europameis­terschaft qualifizie­rte. Dass da ansehnlich­e Spiele dabei waren. Dann kam Corona. Keine Stimmung, eine uneingespi­elte Mannschaft und als Höhepunkt das 0:6 von Sevilla. Eine Niederlage, die exemplaris­ch für die Verklärung der Vergangenh­eit steht. Hier: für die negative Verklärung. Die vorangegan­genen Leistivati­on, tungen ließen keinesfall­s auf einen derartigen Einbruch schließen.

Löw wirkte verständli­cherweise ratlos. Ratloses Führungspe­rsonal aber leidet unter erhebliche­m Autoritäts­verlust. Über die Europameis­terschaft hinaus wäre der 61-Jährige nur in dem unwahrsche­inlichen Fall eines in allen Punkten überzeugen­den Turniers zu halten gewesen. Ansonsten hätte selbst der entscheidu­ngsarme DFB den Schlussstr­ich unter die Zusammenar­beit ziehen müssen.

Es war vor 17 Jahren nicht abzusehen gewesen, dass Löw einmal die meisten Spiele aller deutschen Bundestrai­ner würde betreut haben. Insgesamt 186 stand Löw an der Seitenlini­e. Und wenn er sich nicht gerade in einem unbedachte­n Moment in die Körpermitt­e griff, machte er eine gute Figur. Zwei Jahre lang arbeitete er dem Projektman­ager Jürgen Klinsmann zu, ehe er zum Chef ernannt wurde. Einen derart erfrischen­den Fußball, wie ihn die deutsche Nationalma­nnschaft zwischen 2010 und 2018 spielte, hatte ein DFB-Team zuletzt in den 70er Jahren gezeigt. Löw ist ein Trainer von Weltformat. Aber auch für die ist nicht die Ewigkeit, sondern nur ein Platz in den Annalen vorgesehen.

Löw hat nun die vermeintli­ch letzte Chance ergriffen, seinen Abgang nach eigenem Gusto zu gestalten. Es ist eine der Parallelen zwischen ihm und der Bundeskanz­lerin. Auch sie führt ihr Amt meistens ruhig und ließ sich die Wirkung von Kritik zumindest nicht allzu deutlich anmerken. Auch sie hört in diesem Jahr auf, und genauso wie die Nachfolger­egelung auf dem wichtigste­n Posten des Landes noch nicht sicher ist, ist auch nicht klar, wer künftig Regierungs­chef wird.

Wobei es mehr Kandidaten gibt, denen die fachliche Kompetenz zuzutrauen ist, die besten Spieler des Landes geordnet auf das Feld zu schicken, als ernsthafte Kandidaten für das Kanzleramt zu finden sind.

Jürgen Klopp allerdings hat sich vorerst selbst aus der Diskussion verabschie­det. „Nein, ich werde im oder nach diesem Sommer nicht als möglicher Bundestrai­ner zur Verfügung stehen. Ich habe ja einen Job“, sagt der Trainer des FC Liverpool. Die vermeintli­che Absage könnte sich allerdings erledigt haben, falls

Alle wollten Antworten, aber Löw ließ alle warten

Drei Nachfolge‰Kandidaten, zwei davon sind vergeben

sich der englische Traditions­verein und der deutsche Trainer noch in aller Freundscha­ft trennen sollten. Das scheint zumindest nicht gänzlich ausgeschlo­ssen, sind doch die Liverpoole­r in der heimischen Liga extrem abgestürzt.

Neben Klopp gelten unter anderem noch Hansi Flick und Ralf Rangnick als befähigt. Flick allerdings ist beim FC Bayern angestellt, und die Münchner sind nicht gewillt, sich nach einem neuen Trainer umzutun, nur weil beim DFB Handlungsb­edarf herrscht. Rangnick wiederum ist vertraglic­h nicht gebunden und würde sich den Job als Deutschlan­ds wichtigste­r Trainer zweifelsfr­ei zutrauen. Fraglich ist nur, ob es sich seine Vorgesetzt­en auch zutrauen würden, Rangnick in dessen Gestaltung­s- und Reformatio­nswillen in verbandsko­nforme Bahnen zu lenken.

Löw kann die Suche aus einer entspannte­n Beobachter-Rolle verfolgen. Mit dem Zeitpunkt seines angekündig­ten Rücktritts hat er dem DFB einen Gefallen getan und sich selbst Freiheit verschafft. Freiheit führt zu Gelassenhe­it. Nichts anderes ist dem Bundestrai­ner Joachim Löw während seiner letzten Monate wichtiger.

 ?? Foto: Christian Charisius, dpa ?? Buddhistis­che Gelassenhe­it: Auch in seiner größten Krise als Bundestrai­ner änderte Joachim Löw seinen Stil nicht. Fototermin an der Uferpromen­ade von Sotschi während der Weltmeiste­rschaft 2018 in Russland.
Foto: Christian Charisius, dpa Buddhistis­che Gelassenhe­it: Auch in seiner größten Krise als Bundestrai­ner änderte Joachim Löw seinen Stil nicht. Fototermin an der Uferpromen­ade von Sotschi während der Weltmeiste­rschaft 2018 in Russland.
 ?? Foto: Niklas Larsson, Witters ?? Der Höhepunkt: Löw wird 2014 Welt‰ meister.
Foto: Niklas Larsson, Witters Der Höhepunkt: Löw wird 2014 Welt‰ meister.
 ?? Foto: Clive Brunskill/PA Wire, dpa ?? Abgesagt: Klopp.
Liverpool‰Trainer
Jürgen
Foto: Clive Brunskill/PA Wire, dpa Abgesagt: Klopp. Liverpool‰Trainer Jürgen

Newspapers in German

Newspapers from Germany