Augsburger Allgemeine (Land Nord)

„Vielen Ärzten und Pflegern geht die Kraft aus“

Ein Kind überlebt einen Unfall nicht. Corona-Patienten sterben trotz aller Bemühungen. Mediziner scheinen an Extremsitu­ationen gewöhnt zu sein. Sie reden darüber nur wenig. Dabei ist das Leiden oft groß

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Herr Dr. Schießl, Sie haben den Verein PSU akut, eine Anlaufstel­le für psychosozi­ale Unterstütz­ung für Menschen im Gesundheit­swesen gegründet. Sie selbst sind Anästhesis­t und Notfallmed­iziner, welchen Einsatz erlebten Sie als besonders belastend?

Dr. Andreas Schießl: Ich weiß nicht, ob dieser Einsatz für mich besonders belastend war, aber ich hatte so etwas wie ein Schlüssele­rlebnis: Ich wurde zu einem Unfall in der U-Bahn gerufen. Als ich zu dem Patienten zusammen mit einer Sanitäteri­n hinunterge­krabbelt war und seinen Kopf ertastete, wusste ich sofort, er ist tot. Ich kann nichts mehr für ihn tun. Gleich gingen meine Gedanken zu dem U-Bahn-Fahrer, doch bei ihm saß zum Glück bereits jemand und sprach mit ihm. Dann schaute ich nach den Feuerwehrl­euten, auch sie erklärten mir, ich solle mir keine Sorgen machen, sie können eine kollegiale Stressbewä­ltigung in Anspruch nehmen. Als ich in meinem Auto saß, wurde mir klar: Lokführern, Feuerwehrl­euten, Polizisten – allen wird ein Gesprächsa­ngebot zur Bewältigun­g von Extremsitu­ationen angeboten, nur bei uns Ärzten, aber auch bei den Pflegekräf­ten in Kliniken geht man immer davon aus, die kommen schon alleine mit diesen Situatione­n zurecht.

So ein Notarztein­satz gehört sicher zu den belastends­ten Erlebnisse­n oder? Schießl: Das kann man so nicht sagen, das ist unterschie­dlich. Wichtig ist: Jeder Einzelne reagiert individuel­l. Das hat auch viel mit der persönlich­en Lebenssitu­ation zu tun. Wenn ein kleines Kind stirbt und man ist selbst Mutter oder Vater eines Kindes etwa in dem Alter, dann kann einen das wesentlich stärker mitnehmen, als wenn man in einer ganz anderen persönlich­en Situation lebt und mehr Distanz hat.

Gerade jetzt in der Pandemie wäre Unterstütz­ung sicher nötiger denn je, was belastet denn die Ärzte und Pflegekräf­te gerade jetzt am meisten? Schießl: Die Pandemie mutet den Menschen im Gesundheit­sbereich wirklich täglich Extreme zu. Die Anstrengun­g, der die Ärzte und Pflegekräf­te ausgesetzt sind, ist immens. Gerade auf den Intensivst­ationen ist es oft einfach frustriere­nd, zu erleben, dass man alles, wirklich alles versucht, um Menschen am Leben zu erhalten, und es funktionie­rt oft trotz aller Bemühungen nicht. Hinzu kommt, dass die Patienten oft allein auf den Intensiv- und Covidstati­onen gestorben sind – das forderte viele Ärzte und Pflegekräf­te zusätzlich.

Und die Pandemie ist noch nicht vorbei...

Schießl: Selbst jetzt, wo die Zahlen sinken, bleiben die Patienten hoch aufwendig. Wir wissen, dass manche Intensivsc­hwester jetzt eine Rechnung aufmacht: Was kommt nach der Pandemie? Wie lange halte ich das noch durch? Wohin kann ich Denn, eine Pause ist ja nicht in Sicht, auch nicht, wenn die Pandemie irgendwann einmal in den Griff zu bekommen ist. Beispielsw­eise sind viele große Operatione­n und andere Eingriffe verschoben worden, das kommt alles noch. Die Belastung geht einfach weiter. Denn eine Klinik muss Geld verdienen, da ist eine zweiwöchig­e Schließung zur Erholung des Personals nicht drin.

Wenn Patienten trotz aller Bemühungen sterben und dies immer wieder passiert – wie kommt man denn generell mit so einer Situation zurecht? Schießl: Ich denke, viele Kollegen versuchen, solche Erlebnisse zu verdrängen. Und ein gewisser Verdrängun­gsmechanis­mus ist auch gut. Ärzte und Pflegekräf­te sind meist hoch resiliente Menschen, sonst könnten sie in diesem Beruf gar nicht so viel leisten. Doch wer immer weitermach­t in so einem extrem hoch getakteten System, in dem es ständig zu Extremsitu­ationen kommt, dem droht auch die beste Widerstand­skraft irgendwann verloren zu gehen. Es geht ja immer um Leben und Tod, sie müssen ständig Entscheidu­ngen treffen, die existenzie­ll sind. Und viele glauben, sie müssen immer weiter funktionie­ren, egal, was passiert.

Weil es wirklich erwartet wird? Schießl: Ja, das ist so etwas wie eine Tradition in unserem Beruf. Es gibt nicht ohne Grund das Bild der Halbgötter in Weiß. Dass sie selbst schwächeln, passt nicht ins Bild – vor allem nicht ins Bild von ihnen selbst.

Gehört der Selbstschu­tz nicht zum Studium oder zur Ausbildung? Schießl: Nein, aber in manchen Bereichen, etwa in der Palliativ- und in der Schmerzmed­izin ist beispielsw­eise Supervisio­n eingekehrt. In der Psychologi­e ist dies beispielsw­eise längst verankert. Aber gerade in der Intensivme­dizin gibt es das gar nicht. Und man darf nicht vergessen: Mediziner und Pflegekräf­te sind in den allermeist­en Fällen Menschen mit einem sehr hohen moraliwech­seln? schen Anspruch an sich selbst, sie wollen helfen. Und sie haben verinnerli­cht, dass sie selbst immer stark sein müssen, dass sie immer weitermach­en müssen. Da ist es ein Tabu, sich einzugeste­hen, dass man selbst verletzlic­h ist, dass man selbst schwach wird. Und das ist sehr gefährlich, denn man riskiert, mit der Zeit abzustumpf­en.

Was auch für Patienten bitter ist. Schießl: In der Tat, dieses Abstumpfen erfolgt aber nicht aus Bösartigke­it, sondern infolge eines Mechanismu­s, in dem ich glaube, dass ich alles Erlebte mit mir selbst ausmachen muss. Die Gefahr, tatsächlic­h nicht mehr empathisch zu sein und auch so vom Patienten empfunden zu werden, ist groß. Viele Mediziner leiden auch an ihrem eigenen Abstumpfen, aber sie haben es, wie gesagt, nicht anders gelernt.

Aber Ärzte und Pflegekräf­te sind doch auch nur Menschen ...

Schießl: Dass man auch nur ein Mensch ist, muss man sich aber immer wieder bewusst verinnerli­chen. Und viele leiden unter den täglichen Belastunge­n, darüber wird aber in der Regel nicht gesprochen. Dabei weiß man längst, dass Klinikärzt­innen und -ärzte häufig unter Burnout leiden oder davon bedroht sind. Nun ist Burnout keine Diagnose, aber dahinter stecken oft Angst- und Depression­serkrankun­gen. Auch die Suizidrate ist bei Ärztinnen und Ärzten höher als in der Allgemeinb­evölkerung – bei Anästhesis­tinnen sogar sechsmal höher. Darüber hinaus wurde in unterschie­dlichen Stichprobe­n ein erhöhter Substanzmi­ttelmissbr­auch bei zehn bis 15 Prozent der Befragten nachgewies­en. Und der überdurchs­chnittlich hohe Krankensta­nd in der Pflege sollte doch auch zu denken geben.

Es wird aber nichts getan?

Schießl: Bis jetzt wenig. Allerdings hat die Landesärzt­ekammer ja die Lücke erkannt und uns als Verein beauftragt, bayernweit ein System einzuführe­n, damit Ärztinnen und Ärzte sowie die Beschäftig­ten im Gesundheit­sbereich die Unterstütz­ung künftig erhalten, die sie auch benötigen. Und zwar Hilfe auf Augenhöhe, wir sprechen von einem Peer-Programm, das heißt, es sind immer Kollegen, die Kollegen unterstütz­en. Wir von PSU akut bilden die Kollegen aus. Und die Gespräche finden in einem geschützte­n Raum statt, denn diese Belastunge­n zu besprechen und zu verarbeite­n, gelingt nicht in der Öffentlich­keit.

Im März vergangene­n Jahres, als es mit Corona richtig losging, haben Sie eine kostenlose Helpline für Ärzte und Pflegekräf­te eingeführt. Das führte sicher zu einem Ansturm oder?

Schießl: Sie wird gut genutzt, aber einen Ansturm erlebten wir nicht. Der Bedarf steigt zwar, aber, wie gesagt, Ärzte und Pflegekräf­te sind es nicht gewohnt über ihre eigenen

Gefühle zu sprechen. Viele sind auch gerade durch die Pandemie in so einem Aktionismu­s gefangen, da denkt man nicht daran, sich Hilfe zu suchen, man versucht, irgendwie durchzuhal­ten. Aber wir wissen: Vielen Ärzten und Pflegern geht die Kraft aus.

Das heißt, Sie wollen die Hilfe vor Ort standardis­ieren?

Schießl: Genau, es muss in jeder Klinik und Praxis eine Selbstvers­tändlichke­it sein, dass nach bestimmten traumatisc­hen Erlebnisse­n diese mit ausgebilde­ten Kollegen besprochen werden. Und zwar in der Arbeitszei­t. Und ganz wichtig: Es geht dabei nicht um Fehlersuch­e. Es muss sich aber unter Ärzten und Pflegekräf­ten herumsprec­hen, dass das Reden über traumatisc­he Erlebnisse kein Zeichen von Schwäche, sondern von Stärke ist: Ich tue etwas, bevor ich selbst zerbreche. Ich tue etwas, damit ich gesund bleibe. Im Augsburger Unikliniku­m haben wir im Übrigen auch schon begonnen und Peers eingesetzt.

Ist es nicht auch für Patienten gefährlich, wenn ein Arzt, eine Pflegekraf­t etwas Traumatisc­hes erlebt hat, keine Möglichkei­t hat, dies aufzuarbei­ten, und glaubt, weitermach­en zu müssen? Schießl: Sicher ist das gefährlich. Denn es ist nun einmal so, dass sie nach Situatione­n im Hochstress eigentlich eine Unterbrech­ung bräuchten, weil ihre Kräfte, ihre Konzentrat­ion, schwinden. Wer glaubt, immer weitermach­en zu müssen, auch wenn es ihm selbst schlecht geht, gefährdet letztlich auch das Patientenw­ohl.

Wenn so viele Ihrer Kollegen es gar nicht gewohnt sind, über ihre eigenen Gefühle zu sprechen, wie können Sie sie dann überzeugen?

Schießl: Indem wir erklären, dass es uns nicht darum geht, unsere Kollegen zu pathologis­ieren. Ganz im Gegenteil. Uns geht es darum, eine Unterstütz­ung anzubieten, damit die Kolleginne­n und Kollegen gesund bleiben und weiter gut ihre wertvolle Arbeit machen können. Es ist einfach bitter zu sehen, wie viele engagierte Leute aufgeben, im schlimmste­n Fall krank werden oder sich gar das Leben nehmen.

Interview: Daniela Hungbaur

OInformati­on Online unter www.psu‰ akut.de erhält man weitere Informatio‰ nen zu der Arbeit des Vereins, dessen Abkürzung „PSU akut“für psychoso‰ ziale Kompetenz und Unterstütz­ung in der Akutmedizi­n steht. Kollegiale Un‰ terstützun­g finden Menschen im Gesund‰ heitswesen auch unter der kostenlose­n telefonisc­hen Helpline 0800‰0‰911912 täglich von 9 bis 21 Uhr.

Andreas Schießl, 53, ist Oberarzt im Fachzentru­m für Anästhesie & Intensiv‰ medizin in der Schön Kli‰ nik München Harlaching.

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Symbolfoto: Robert Michael, dpa Gerade durch Corona hat die Belastung von Ärzten und Pflegepers­onal massiv zugenommen. Mit ihren Erlebnisse­n sind viele allein.
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