Augsburger Allgemeine (Land Nord)
Schwere Vorwürfe gegen „Bild“Chef Reichelt
Berichten zufolge gibt es interne Ermittlungen gegen ihn, unter anderem wegen Machtmissbrauchs
Berlin Wie Bild-Chefredakteur Julian Reichelt wirklich ist, wissen nur wenige. Wie er sich selber sehen will, wie er sich inszeniert – davon hat die Doku „Bild. Macht. Deutschland?“auf Amazon Prime Video einen Eindruck gegeben: immer im Recht, nimmermüde; ein Antreiber und einer, der mitspielt im großen Spiel der Bundespolitik. Sein Image dagegen ist das eines Krawallmachers. Reichelt ist – wie ganz ähnlich das Boulevardblatt aus dem Hause Springer – für viele eine Hassfigur. Während das gewissermaßen Teil der Jobbeschreibung ist, sind die aktuellen Vorwürfe für ihn hochproblematisch.
Der Spiegel berichtete am Montag, ausgerechnet am Weltfrauentag, Reichelt müsse sich in einem sogenannten Compliance-Verfahren innerhalb des Axel-Springer-Verlags verantworten. Rund ein halbes Dutzend Mitarbeiterinnen hätten dem Medienhaus Vorfälle, die gegen interne Verhaltensregeln verstießen, aus den vergangenen Jahren angezeigt. Informationen des Branchendienstes Meedia zufolge soll es „ein Kreis von mehr als zehn weiblichen wie männlichen Personen sein“. Springer teilte mit, sich zu internen Vorgängen „grundsätzlich nicht“zu äußern. Laut Spiegel geht es um Machtmissbrauch und die Ausnutzung von Abhängigkeitsverhältnissen. Sowie: „In einzelnen Fällen soll sich Reichelt möglichen Vorwürfen von Nötigung und Mobbing stellen müssen.“
Glaubt man Investigativjournalist Marcus Engert, herrscht Unruhe in der Redaktion. Einige betonten, man kenne Reichelt als wunderbaren Chef, der Frauen fördere. Andere seien fassungslos. Er höre, so Engert auf Twitter, Mitglieder der Chefredaktion würden Leute auffordern, in sozialen Netzwerken ProReichelt-Durchhalte-Posts zu liken und zu teilen. Sollte es die Aufforderung gegeben haben, blieb sie bis Dienstagnachmittag ohne Folgen.
Reichelt, 1980 in Hamburg geboren, ließ sich nach dem Abitur bei der Bild zum Redakteur ausbilden, machte dort Karriere und vor allem als Kriegsreporter auf sich aufmerksam. 2017 wurde er Vorsitzender der Bild-Chefredaktionen, im Juli 2020 zudem – mit Welt-Chefredakteur Ulf Poschardt – Sprecher der Geschäftsführung. Der wirtschaftliche Druck auf ihn ist groß. So treibt die Bild ihre Video- und Live-Strategie massiv voran – noch mit durchwachsenem Erfolg.
Häufiger debattiert wurde in den vergangenen Jahren die Frage, wie lange er sich an der Bild-Spitze wird halten können. Seit dem Rücktritt Tanit Kochs 2018, der ihn zum alleinigen Chef auch der gedruckten Bild machte, setzt er auf konfrontative Berichterstattung und Kampagnenjournalismus. Was dem Blatt eine Reihe von Rügen des Presserats einbrachte. Und Reichelt in die missliche Situation, dass Mathias Döpfner – Vorstandsvorsitzender der Axel Springer SE und Präsident des Bundesverbandes Digitalpublisher und Zeitungsverleger – Fehler in der Berichterstattung der Bild zum „Fall Solingen“einräumen musste. Dort soll eine Mutter im September 2020 fünf ihrer sechs Kinder ermordet haben. Bild.de veröffentlichte WhatsApp-Nachrichten des überlebenden elfjährigen Sohnes. Auch im Zusammenhang mit dem Umgang der Bild mit dem Virologen Christian Drosten, dem man unter anderem für eine Stellungnahme nur eine Stunde Zeit gab, sprach Döpfner von einem „dummen Fehler“. Die Fehler häufen sich, doch die aktuellen Vorwürfe gegen Reichelt scheinen von anderer Qualität zu sein.
Nach einem Bericht des Fachmagazins kress pro habe es bereits vor Jahren einen – nicht zutreffenden – Vorwurf eines Verstoßes gegen Springer-interne Compliance-Regeln gegen ihn gegeben. Möglicherweise, weil er sich durch seinen harten Führungsstil viele Feinde geschaffen habe, die nur auf einen Fehler warteten, so kress pro.
Einem Bericht des Fachmediums Horizont zufolge bestreitet Reichelt die Vorwürfe. Im Intranet warnten demnach Döpfner und Jan Bayer, Springer-Vorstand News Media, am Dienstagnachmittag vor einer Vorverurteilung. Ein Ergebnis des Compliance-Verfahrens könnte schon im Laufe dieser Woche vorliegen, schrieb Horizont.