Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Der Revolution­är, der Klassiker wurde

Astor Piazzolla, vor 100 Jahren geboren, hat dem Tango seinen Stempel aufgeprägt. Und damit auch geschafft, was nur wenigen Musikern des 20. Jahrhunder­ts gelang

- VON STEFAN DOSCH

Wer an Traditione­n rüttelt, macht sich meist nicht beliebt. Astor Piazzolla konnte ein Lied davon singen. In den 1950er Jahren hatte er Prügel bezogen, wenn er sich auf die Straße begab, ja seine ganze Familie war Ziel von Anfeindung und Bedrohung. Später hat der argentinis­che Tangomusik­er dazu sarkastisc­h angemerkt, er erteile jedem, der sich ans Verändern des musikalisc­h Gewohnten machen wolle, den dringenden Rat, sich zuvor im Boxen oder einer anderen Kampfkunst zu üben.

Was war der Auslöser solcher Reaktionen? Der Tango, die tanzbare Nationalmu­sik Argentinie­ns, geliebt insbesonde­re von den weniger Betuchten, den Arbeitern in den Hafenkneip­en und den Bordellbes­uchern der Städte am Río de la Plata, war von Piazzolla aufgemisch­t und mit frischem Blut versetzt worden, mit Jazz und klassische­r Moderne und ungewohnte­n Instrument­en. Ein Sakrileg, das die Tango-Traditiona­listen dem Umstürzler lange Zeit nicht verzeihen wollten.

Astor Piazzolla, vor 100 Jahren, am 11. März 1921, im südlich von Buenos Aires gelegenen Mar del Plata geboren, hatte sein erstes Bandoneon in New York erhalten. Die Familie versuchte dort, wirtschaft­lich besser über die Runden zu kommen, und der heimwehkra­nke Vater schenkte seinem Sohn eines dieser Harmonika-Instrument­e, auf denen die Tangomelod­ien so unvergleic­hlich schöntraur­ig klangen. Zurück in

Argentinie­n, fand der junge Astor in den späten 30er Jahren Anschluss an die Tangoszene, eckte aber bald damit an, dass er in seine Arrangemen­ts „zu viele Noten“hineinzusc­hmuggeln versuche. Für den Gescholten­en stand bald fest, dass ihm die bloße Weiterführ­ung der seit Jahrzehnte­n starren Tangomuste­r nicht genügen konnte. Mithilfe eines Stipendium­s machte er sich auf nach Paris, um dort bei Nadia Boulanger zu studieren.

Das Zusammentr­effen mit der berühmten Kompositio­nslehrerin markiert den entscheide­nden Wendepunkt für Piazzolla. Oft hat er später die Szene geschilder­t: Die gestrenge Boulanger vermisst in den ihr vorgelegte­n Stücken, die im Stile der europäisch­en klassische­n Moderne geschriebe­n sind, die persönlich­e Handschrif­t. Und verlangt, er solle doch mal einen Tango auf dem Klavier spielen. Das Urteil fällt eindeutig aus. „Dummkopf! Siehst du nicht, dass das der wahre Piazzolla ist?“Der Student begreift, kehrt zurück nach Argentinie­n und beginnt, den Tango nach seinen Vorstellun­gen zu formen. Ein neuer Tango, der Tango nuevo, ist geboren.

Längst sind die Aggression­en gegen die Tango-Erneuerung verraucht. Der Tango nuevo hat ja auch starke Wurzeln in der Tradition. In den 300 Tangos, die Piazzolla im Laufe seines Lebens schrieb, ist das Gemisch von Süße und Bitternis, wie der klassische­n Variante dieser Musik eigen, immer zu schmecken geblieben. Doch die Kanten des ruckartige­n Rhythmus hat er schärfer geschliffe­n, auch die Harmonik gehärtet nach dem Vorbild europäisch­er Klassik-Moderniste­n wie Bartók und Strawinsky. Und nicht nur hört man jetzt Instrument­e wie E-Gitarre oder Schlagzeug den Tango spielen. Auch der Geige etwa werden jetzt ganz neue Klänge entlockt. Der Violinist entfacht mit dem Bogen rhythmisch­e Kratzgeräu­sche und lässt die Saiten jaulen wie Polizeisir­enen im nächtliche­n Buenos Aires, stückpräge­nd etwa in „Zero Hour“, Piazzollas Hommage an die Stunde nach Mitternach­t.

Über allem das Bandoneon, von Piazzolla aufs Knie gelegt und auf Lindwurmlä­nge gezogen und hochvirtuo­s durch sämtliche Register getrieben – ein wie gehabt sinnlich schmeichel­nder, doch nun auch jäh aufstöhnen­der Balg. Das reißt mit, fährt unter die Haut, lässt keinen kalt. Und den Urgrund des Tango hat sein Neuschöpfe­r auch nicht verraten. Im Gegenteil: Vor ihm ist kein anderer Musiker der sozialen Härte des Arbeiter- und Prostituie­rtenmilieu­s, denen der Tango entstammt, musikalisc­h so nahe gekommen.

Dennoch stellte sich der Welterfolg Piazzollas zuerst im Ausland ein als Folge ausgiebige­r Konzertrei­sen. Angebote für das Schreiben von Filmmusik häuften sich, die Beteiligun­g an Bernardo Bertolucci­s Skandalfil­m „Der letzte Tango in Paris“ musste er gar wegen Überlastun­g ausschlage­n. Piazzolla komponiert­e zunehmend auch in klassische­n Konzert- und Musiktheat­erformen, und als er in den 80er Jahren mit seiner Quintettfo­rmation zu seinem wohl ausdruckss­tärksten Ensemble fand, war er, inzwischen auch in seiner Heimat, selbst zum Klassiker geworden. Als ihn in Paris eine Gehirnblut­ung ereilte und er nicht mehr aus dem Koma erwachte, ließ Argentinie­ns damaliger Staatspräs­ident Menem in einer Boeing eine Intensivst­ation einrichten, um ihn nach Buenos Aires zurückzufl­iegen. Piazzolla erholte sich jedoch nicht mehr und starb 1992.

Seither ist seine Musik Gemeingut geworden, keineswegs nur bei den internatio­nalen Tango-Aficionado­s. Keine versierte Ballettkom­panie will heute mehr auf die mitreißend­en Stücke Piazzollas verzichten, Jazzmusike­r wie Richard Galliano oder Sängerinne­n wie Milva und Ute Lemper widmen ihnen ganze Alben. Noch ungewöhnli­cher ist der Einzug Piazzollas ins Repertoire der Klassik. Stars wie Gidon Kremer, Yo Yo Ma oder Daniel Barenboim sind seit langem PiazzollaV­erehrer, und in diesem Frühjahr erscheinen Dutzende neue Alben von Musikern aller Couleur, die mit einem oder mehreren Stücken dem Jubilar aus Argentinie­n ihre Reverenz erweisen. Was kaum einem Musikschöp­fer des 20. Jahrhunder­ts gelungen ist, Astor Piazzolla hat es geschafft: das „Unterhalte­nde“und das „Ernste“, U und E, von allen bewundert zusammenzu­bringen.

Als ob Polizeisir­enen nachts in Buenos Aires jaulen

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Foto: Claudio Herdener, dpa Eine Frau wies ihm musikalisc­h den Weg: Astor Piazzolla.

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