Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Grüner Herrscher im schwarzen Land

Winfried Kretschman­n ist gelungen, was vor zehn Jahren niemand für möglich gehalten hätte: Er fährt ausgerechn­et in der konservati­ven Hochburg Traumergeb­nisse ein. Für die CDU ist das ein Desaster

- VON MARGIT HUFNAGEL

Stuttgart Als der SWR in der vergangene­n Woche seine Kamerateam­s in die Fußgängerz­onen Baden-Württember­gs schickte, um die Stimmung vor der Landtagswa­hl einzufange­n, trafen die dort auf eine junge Frau. Die sagte einen Satz in das Mikrofon, der so schlicht wie erstaunlic­h war: „Wenn Opa Winnie da ist, ist alles gut.“Opa Winnie, das ist Winfried Kretschman­n. Erster grüner Ministerpr­äsident und so etwas wie die politische Vertrauens­person in Baden-Württember­g.

Ihm ist an diesem Wochenende etwas gelungen, was vor zehn Jahren wohl kaum jemand für möglich gehalten hätte. Dank eines Rekorderge­bnisses für seine Partei kann der 72-Jährige in seine dritte Amtszeit als Ministerpr­äsident starten. Als er sich um kurz vor 19 Uhr bei den Wählern bedankt, ist ihm die Ergriffenh­eit deutlich anzumerken. Blitzlicht­gewitter gibt es in diesem Jahr nicht, genausowen­ig wie Wahlpartys. Corona eben. Kretschman­n verspricht: „Ich werde all meine Leidenscha­ft und Tatkraft einbringen.“2021 sei ein Jahr der Entscheidu­ngen – und damit meint er nicht nur die Corona-Pandemie, sondern auch den Klimawande­l, der fast von der politische­n Agenda verschwund­en war. Doch grüne Politik hat bei Kretschman­n immer auch einen wertkonser­vativen Kern. Dass er ausgerechn­et im konservati­ven Stammland die CDU vom Thron stieß, hat seine Gründe. „Die Bürgerinne­n und Bürger von BadenWürtt­emberg sind mit der Arbeit des Ministerpr­äsidenten hochzufrie­den“, sagt Ulrich Eith, Politikwis­senschaftl­er aus Freiburg. „Das erklärt dieses gute Wahlergebn­is.“

Vor allem die Zustimmung­swerte zu Kretschman­n persönlich tragen zu dieser Stimmung bei: Bis zu 80 Prozent sprechen ihm Glaubwürdi­gkeit, Führungsst­ärke und Kompetenz zu. In früheren CDU-Domänen wie Wirtschaft oder Bildung werde den Grünen ähnlich viel zugetraut wie der CDU. Neben einem überragend­en Zuspruch beim Klimaschut­z führten die Grünen bei dem Themen Zukunft und Ausländer sowie beim dominieren­den Thema Corona. Die Mannheimer Forschungs­gruppe Wahlen kommt sogar zu dem Schluss, er verkörpere wie kaum ein anderer den „idealtypis­chen Landesvate­r“. „Doch die hohen Zustimmung­swerte zu Winfried Kretschman­n zeigen zugleich

die Schwäche der CDU“, sagt Eith. Für die ist dieser Sonntag nicht nur eine Niederlage, sondern ein Desaster – allerdings eines mit Ansage. Ihr sei es über mehrere Jahre hinweg nicht gelungen, jemanden an der Spitze zu positionie­ren, so Eith, der auch nur in die Nähe der Beliebthei­tswerte von Kretschman­n heranreich­en konnte.

Die große Frage, die an diesem Sonntagabe­nd nicht nur in Stuttgart, sondern auch in Berlin im Raum steht, ist aber ohnehin eine andere: Mit wem will Kretschman­n seine Ziele in den kommenden fünf Jahren umsetzen? Sein bisheriger Koalitions­partner CDU schnitt so schlecht ab wie dort nie zuvor. Noch dramatisch­er lief es nur für die SPD, die in Baden-Württember­g – übrigens dem Landesverb­and, aus dem SPD-Chefin Saskia Esken stammt –

gerade noch zweistelli­ges Ergebnis erzielte.

Einziger Trost für SPD und CDU wäre eine Regierungs­beteiligun­g in Baden-Württember­g. Beide Parteien flirten seit Wochen offensiv mit den Grünen – denn die können sich den politische­n Partner aussuchen: Grün-Schwarz, Grün-Gelb-Rot nach einer ARD-Hochrechnu­ng vom Abend wäre auch eine Neuauflage der grün-roten Koalition denkbar, die zwischen 2011 und 2016 schon einmal regierte. Doch Grünen-Landeschef Oliver Hildenbran­d will sich noch nicht festlegen: „Wir wissen heute Abend nicht, mit wem wir wollen.“Am überrasche­ndsten wäre sicher die Ampel, auch die FDP hatte sich bereits im Vorfeld angeboten, obwohl sich die Partei jahrelang regelrecht als Grünen-Fresserin inszeniert­e. Ob Winauch fried Kretschman­n dieses Experiment wagt? Falls ja, wäre dies ein deutliches Signal an den Bund. Denn dort warten nicht wenige darauf, mit dem Abgang von Kanzlerin Angela Merkel im Herbst einen politische­n Neuanfang zu erzwingen – und zwar komplett ohne die Union. Doch nur mit einer Ampel-Koalition könnten SPD, FDP und Grüne die nach wie vor starken Konservati­ven in Berlin aus der Regierung verdrängen. „Es gibt Mehrheiten jenseits der Union“, betont deshalb auch SPD-Generalsek­retär Lars Klingbeil am Sonntagabe­nd. Entschiede­n wird allerdings nicht in der Hauptstadt, sondern im Ländle.

Und dort will auch die CDU gerne weiterhin in der Stuttgarte­r Regierung mitwirken. Falls es dazu kommt, wird das wohl ohne die Spitzenkan­didatin Susanne Eisenein mann sein, die auch in ihrem Stuttgarte­r Wahlkreis eine bittere Niederlage einstecken musste. Nach Angaben der Landeshaup­tstadt kam sie nur auf 21,7 Prozent der Stimmen und schaffte es nicht, Winfried Hermann (Grüne) das Direktmand­at abzujagen. Eisenmann steht nun vor dem politische­n Aus.

Es sei ein „enttäusche­ndes und desaströse­s Wahlergebn­is“, sagt die Kultusmini­sterin am Abend. Die Partei rückt längst von ihr ab. Eisenmann hatte sich im Machtkampf um die Spitzenkan­didatur Feinde in der Partei gemacht, als sie mit Hilfe der Fraktion Vizeminist­erpräsiden­t und Landeschef Thomas Strobl zur Seite drängte. Strobl gilt als Vertrauter von Kretschman­n und könnte wohl am ehesten die Verhandlun­gen für eine Fortsetzun­g der grünschwar­zen Koalition führen. „Mein Eindruck ist auch, dass eine Mehrheit der Bevölkerun­g das möchte“, sagt Strobl vor den Fernsehkam­eras. „Ich konnte auch nicht feststelle­n in den Wochen vor der Wahl, dass es eine Art Wechselsti­mmung gegeben hat, sondern die Menschen vertrauen dieser Regierung, dieser Koalition.“Doch was kann Thomas Strobl anfangen mit einem Wahlergebn­is, das nichts anderes ist als ein Misstrauen­svotum? „Ich werde daraus die notwendige­n Schlüsse ziehen“, verspricht er. Wie die aussehen? Das ist offen.

Mit ein Grund für die Abstrafung durch die Wähler dürfte die streng konservati­ve Ausrichtun­g der Südwest-CDU sein. Trotzdem hofft man, immerhin Juniorpart­ner zu werden. Sollte Strobls Partei ausgerechn­et im eigentlich schwarzen Kernland ein zweites Mal in die Opposition geschickt werden, wäre dies gleich eine doppelte Niederlage – und nicht nur Auftrag, sondern Pflicht zur Rundum-Erneuerung.

Es werden wohl noch Tage vergehen, ehe eine endgültige Entscheidu­ng fällt. „Für Grün-Schwarz spricht, dass sich zwei Koalitions­partner schneller einig werden als drei Koalitions­partner“, glaubt Politikwis­senschaftl­er Ulrich Eith. Dies würde es Winfried Kretschman­n zudem erlauben, neben der Klimapolit­ik einen inhaltlich­en Schwerpunk­t in der Wirtschaft­sund Finanzpoli­tik zu setzen. „Anderersei­ts hat eine Ampel mit FDP und SPD größere Schnittmen­gen – in den Feldern Gleichstel­lungspolit­ik, Asylpoliti­k, Integratio­nspolitik liegen Grüne, SPD und FDP näher beieinande­r als Grüne und CDU.“

 ?? Foto: Sebastian Gollnow, dpa ?? Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n und seine Frau Gerlinde in ihrem Heimatort Laiz auf dem Weg zum Wahllokal. Der grüne Ministerpr­äsident hat mit seiner Partei ein Rekorderge­bnis erzielt.
Foto: Sebastian Gollnow, dpa Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n und seine Frau Gerlinde in ihrem Heimatort Laiz auf dem Weg zum Wahllokal. Der grüne Ministerpr­äsident hat mit seiner Partei ein Rekorderge­bnis erzielt.

Newspapers in German

Newspapers from Germany