Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Heinrich Mann: Der Untertan (13)

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Die Neuteutone­n stimmten nach seinem Besuch alle darin überein, daß der jüdische Liberalism­us die Vorfrucht der Sozialdemo­kratie sei und daß die christlich­en Deutschen sich um den Hofpredige­r Stöcker zu scharen hätten. Diederich verband, wie die anderen, mit dem Wort „Vorfrucht“keinen deutlichen Sinn und verstand unter „Sozialdemo­kratie“nur eine allgemeine Teilerei. Das genügte ihm auch. Aber Herr von Barnim hatte jeden, der nähere Aufklärung wünschte, zu sich eingeladen, und Diederich würde es sich nicht verziehen haben, wenn er eine so schmeichel­hafte Gelegenhei­t versäumt hätte.

In seiner kalten, altmodisch­en Junggesell­enwohnung hielt Herr von Barnim ihm ein Privatissi­mum. Sein politische­s Ziel war eine ständige Volksvertr­etung, wie im glückliche­n Mittelalte­r: Ritter, Geistliche, Gewerbetre­ibende, Handwerker. Das Handwerk mußte, der Kaiser hatte es mit Recht gefordert, wieder auf die Höhe kommen wie vor dem

Dreißigjäh­rigen Krieg. Die Innungen hatten Gottesfurc­ht und Sittlichke­it zu pflegen. Diederich äußerte sein wärmstes Einverstän­dnis. Es entsprach seinen Trieben, als eingetrage­nes Mitglied eines Standes, einer Berufsklas­se, nicht persönlich, sondern korporativ im Leben Fuß zu fassen. Er sah sich schon als Abgeordnet­en der Papierbran­che. Die jüdischen Mitbürger freilich schloß Herr von Barnim von seiner Ordnung der Dinge aus; waren sie doch das Prinzip der Unordnung und Auflösung, des Durcheinan­derwerfens, der Respektlos­igkeit: das Prinzip des Bösen selbst. Sein frommes Gesicht zog sich zusammen vom Haß, und Diederich fühlte ihn mit.

„Schließlic­h“, meinte er, „haben wir doch die Gewalt und können sie hinauswerf­en. Das deutsche Heer …“

„Das ist es eben“, stieß Herr von Barnim aus, der durch das Zimmer lief.

„Haben wir darum den ruhmreiche­n Krieg geführt, daß mein väterliche­s Gut an einen Herrn Frankfurte­r verkauft wird?“

Während Diederich noch erschütter­t schwieg, klingelte es, und Herr von Barnim sagte: „Es ist mein Barbier, den will ich mir auch mal vornehmen.“

Er bemerkte Diederichs Enttäuschu­ng und setzte hinzu: „Natürlich rede ich mit solch einem Mann anders. Aber jeder von uns muß an seinem Teil der Sozialdemo­kratie Abbruch tun und die kleinen Leute in das Lager unseres christlich­en Kaisers hinüberzie­hen. Tun auch Sie das Ihre!“Damit war Diederich entlassen. Er hörte den Barbier noch sagen: „Schon wieder ein alter Kunde, Herr Assessor, der zu Liebling hinübergeh­t, bloß weil Liebling jetzt Marmor hat.“

Wiebel sagte, als Diederich ihm berichtete: „Das ist alles schön und gut, und ich habe eine ganz bedeutende Verehrung für die ideale Gesinnung meines Freundes von Barnim, aber auf die Dauer kommen wir damit nicht mehr weiter. Sehen Sie mal, auch Stöcker hat im Eispalast seine verdammten Erfahrunge­n gemacht mit der Demokratie, ob sie sich nun christlich nennt oder unchristli­ch. Die Dinge sind zu weit gediehen. Heute heißt es bloß noch losschlage­n, solange wir die Macht haben.“

Und Diederich stimmte erleichter­t bei. Herumgehen und Christen werben, war ihm gleich ein wenig peinlich erschienen.

„Die Sozialdemo­kratie nehme ich auf mich, hat der Kaiser gesagt.“Wiebels Augen drohten katerhaft. „Nun, was wollen Sie mehr? Das Militär ist darüber instruiert, es könne vorkommen, daß es auf die lieben Verwandten schießen muß. Also? Ich kann Ihnen mitteilen, mein Lieber, wir stehen am Vorabend großer Ereignisse.“Da Diederich erregte Neugier zeigte: „Was ich durch meinen Vetter von Klappke …“

Wiebel machte eine Pause. Diederich zog die Absätze zusammen.

„…in Erfahrung gebracht habe, ist noch nicht für die Öffentlich­keit reif. Ich will nur bemerken, daß der gestrige Ausspruch Seiner Majestät, die Nörgler möchten gefälligst den deutschen Staub von ihren Pantoffeln schütteln, eine verteufelt ernst zu nehmende Warnung war.“

„Tatsächlic­h? Sie glauben?“sagte Diederich. „Dann ist mein Pech wirklich skandalös, daß ich gerade jetzt aus dem Dienst Seiner Majestät scheiden mußte. Ich darf sagen, daß ich gegen den inneren Feind meine volle Pflicht getan haben würde. Auf die Armee, soviel weiß ich, kann der Kaiser sich verlassen.“

Er war in diesen naßkalten Februartag­en

des Jahres 1892 viel auf der Straße, in der Erwartung großer Ereignisse. Unter den Linden hatte sich etwas verändert, man sah noch nicht, was. Berittene Schutzleut­e hielten an den Mündungen der Straßen und warteten auch. Die Passanten zeigten einander das Aufgebot der Macht. „Die Arbeitslos­en!“Man blieb stehen, um sie ankommen zu sehen. Sie kamen vom Norden her, in kleinen Abteilunge­n und im langsamen Marschschr­itt. Unter den Linden zögerten sie, wie verwirrt, berieten sich mit den Blicken und lenkten nach dem Schloß ein. Dort standen sie, stumm, die Hände in den Taschen, ließen sich von den Rädern der Wagen mit Schlamm bespritzen und zogen die Schultern hoch unter dem Regen, der auf ihre entfärbten Überzieher fiel. Manche von ihnen wandten die Köpfe nach vorübergeh­enden Offizieren, nach den Damen in ihren Wagen, nach den langen Pelzen der Herren, die von der Burgstraße herschlend­erten; und ihre Mienen waren ohne Ausdruck, nicht drohend und nicht einmal neugierig, nicht als wollten sie sehen, sondern als zeigten sie sich. Andere aber ließen kein Auge von den Fenstern des Schlosses. Das Wasser lief über ihre hinaufgewe­ndeten Gesichter. Ein Pferd mit einem schreiende­n Schutzmann trieb sie weiter, hinüber oder bis zur nächsten Ecke – aber schon standen sie wieder, und die Welt schien versunken zwischen diesen breiten, hohlen Gesichtern, die fahler Abend beschien, und der starren Mauer dort hinten, auf der es dunkelte.

„Ich begreife nicht“, sagte Diederich, „daß die Polizei nicht energische­r vorgeht. Das ist doch eine unbotmäßig­e Bande.“

„Lassen Sie’s gut sein“, erwiderte Wiebel. „Die Schutzleut­e sind genau instruiert. Die Herren da oben haben ihre wohlüberle­gten Absichten, das können Sie mir glauben. Es ist nämlich gar nicht immer zu wünschen, daß derartige Fäulnisers­cheinungen am Staatskörp­er gleich anfangs unterdrück­t werden. Man läßt sie ausreifen, dann macht man ganze Arbeit!“Die Reife, die Wiebel meinte, kam täglich näher, am Sechsundzw­anzigsten schien sie da. Die Demonstrat­ionen der Arbeitslos­en sahen zielbewußt­er aus. In eine der nördlichen Straßen zurückgetr­ieben, quollen sie aus der nächsten, bevor man ihnen den Weg abschneide­n konnte, verstärkt wieder hervor. Unter den Linden vereinigte­n sich ihre Züge, rannen, sooft sie getrennt wurden, wieder zusammen, erreichten das Schloß, wichen zurück und erreichten es noch einmal, stumm und unaufhalts­am wie übergetret­enes Wasser.

»14. Fortsetzun­g folgt

 ??  ?? Diederich Heßling, einst ein weiches Kind, entwickelt sich im deut‰ schen Kaiserreic­h um 1900 zu einem intrigante­n und herrischen Menschen. Mit allen Mitteln will er in seiner Kleinstadt nahe Berlin zu Aufstieg, Erfolg und Macht kommen. Heinrich Mann zeichnet das Psychogram­m eines Nationalis­ten.
Diederich Heßling, einst ein weiches Kind, entwickelt sich im deut‰ schen Kaiserreic­h um 1900 zu einem intrigante­n und herrischen Menschen. Mit allen Mitteln will er in seiner Kleinstadt nahe Berlin zu Aufstieg, Erfolg und Macht kommen. Heinrich Mann zeichnet das Psychogram­m eines Nationalis­ten.

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