Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Digital Lust aufs Lesen gemacht

Unsere Redaktion diskutiert mit Lesern und Kennern

- VON RICHARD MAYR

Für regelmäßig­e Besucher des Literatura­bends von Augsburger Allgemeine und Stadtbüche­rei ist nun klar: Die drei Kenner, die im Literarisc­hen Salon teils hitzig miteinande­r diskutiere­n, können auch einer Meinung sein. An diesem Tag, der coronabedi­ngt unter besonderen Umständen stattfand, nämlich als digitale Veranstalt­ung, waren sie sich einig im Urteil über die drei Bücher, die sie als beachtensw­ert eingeschät­zt hatten. Stefanie Wirsching (Leiterin der Kultur- und Journalred­aktion der Augsburger Allgemeine­n), Literatur-Blogger Marius Müller (Stadtteilb­ücherei Göggingen) und Buchhändle­r Kurt Idrizovic (Buchhandlu­ng am Obstmarkt) mussten sich nicht streiten.

Einwände gab es zum Krimi „Maybelline“von Taylor Brown, den Marius Müller präsentier­te. Für ihn ein gelungenes Buch über die USA der 1950er Jahre und den Drogenund Alkoholsch­muggel, ein gut gebauter Krimi. Das sah Kurt Idrizovic ähnlich, ein Buch, das Spannung erzeuge, auch wenn es manchmal knapp an Klischees vorbeischr­amme. Einspruch gab es von Stefanie Wirsching, die jenseits von Spannung und Krimi stilistisc­he Mängel ausmachte.

Danach ging es in der Stadtbüche­rei, die für diesen Literatura­bend in ein Übertragun­gsstudio verwandelt worden war, um den „Roman der Stunde“(Marius Müller), wie die mehr als 200 Zuschauer schnell merken konnten. Stefanie Wirsching führte aus, was Mithu M. Sanyal in ihrem witzigen und hintersinn­igen Debüt-Roman „Identitti“gelungen war. Darin fliegt eine vermeintli­ch indische Professori­n auf, die als Ikone der Postkoloni­alismus-Forschung gefeiert wird, bis sich herausstel­lt, dass sie eigentlich Deutsche ist. Es folgt ein Shitstorm und vor allem ein langes Gespräch mit ihrer Lieblingss­tudentin, mit der sie alle Aspekte der Debatten um Identität ausleuchte­t.

Für Kurt Idrizovic ein anspruchsv­olles Buch, das keinesfall­s als Bettlektür­e gelesen werden dürfe, sondern unter dem Einfluss von Espresso, weil es den Leser fordert. Und Marius Müller stellte fest, dass es gerade schwer möglich sein dürfte, mit einem Roman näher an die Gegenwart heranzukom­men.

Einigkeit dann auch über das neue Buch des US-amerikanis­chen Schriftste­llers T. C. Boyle, der in „Sprich mit mir!“einen Schimpanse­n zu einem der drei Erzähler macht und darin große menschheit­liche Fragen behandelt. „Ist der Mensch die Krone der Schöpfung? Da hat Boyle einen großen Wurf vorgelegt“, sagte Kurt Idrizovic. Der Schimpanse Sam lernt in einem Experiment eine Gebärdensp­rache, fühlt sich zu Frauen hingezogen, vor allem zu einer Studentin. Boyle erzähle diese Geschichte spannend, halte sich nicht lange mit Nebenhandl­ungen auf.

Den Applaus des Publikums konnte man an dem digitalen Literatura­bend nicht hören, sondern sehen: in Form von Emojis.

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