Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Händler flehen die Kanzlerin an

Unternehme­r fordern, nicht nur auf Pandemie-Werte zu schauen: „So lernen wir nie, mit dem Virus zu leben.“Es brauche Regeln, damit Kunden weiter mit einem Termin bei ihnen einkaufen können. Sonst wird die Lage düster

- VON MICHAEL KERLER

Augsburg/Berlin Im Einzelhand­el sind die Sorgen groß, dass ein neuer Lockdown den Betrieben keine Luft mehr zum Atmen lässt. Der Chef des Bekleidung­sunternehm­ens s.Oliver, Claus-Dietrich Lahrs, fordert, die Öffnung des Handels nicht länger von Inzidenzwe­rten abhängig zu machen: „Aus unserer Sicht ist es unzureiche­nd, sich an blanke Inzidenzwe­rte zu klammern“, sagt er unserer Redaktion: „So lernen wir nie, mit dem Virus zu leben.“Und weiter: „Es muss zu einer echten Risikoabwä­gung kommen, die andere Indikatore­n wie die Intensivbe­ttenbelegu­ng oder die Impfrate einbezieht, so schlägt es auch das RobertKoch-Institut vor.“

An diesem Montag will Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) mit den Ministerpr­äsidenten über das weitere Vorgehen in der CoronaPoli­tik beraten. Angesichts wieder steigender Ansteckung­szahlen deutete sich zuletzt an, dass der Lockdown wieder verschärft werden könnte. Ärztevertr­eter und Gesundheit­spolitiker sehen die steigenden Fallzahlen mit großer Sorge.

Der Deutsche Handelsver­band (HDE) warnte dagegen vor neuen Verschärfu­ngen für den Handel. Durch die ersten Öffnungssc­hritte hätten viele Händler ein kleines Licht am Ende des Tunnels gesehen, teilte der Verband mit. Eine Rückkehr in den Lockdown würde ihnen die Perspektiv­e rauben. „Unter Händlern herrscht Einigkeit. Wir müssen jetzt die flächendec­kende Öffnung des Handels angehen und das Impftempo erhöhen. An den Entscheidu­ngen am Montag hängen Existenzen“, warnte HDE-Hauptgesch­äftsführer Stefan Genth.

Die Händler sind überzeugt, dass ihre Geschäfte nicht maßgeblich zur Verbreitun­g des Virus beitragen. „Wir leisten unseren Beitrag, indem wir umfangreic­he Hygienekon­zepte umsetzen“, sagt s.Oliver-Chef Lahrs. „Diese haben sich bereits bewährt, das zeigt auch der Lebensmitt­eleinzelha­ndel, der in den vergangene­n Monaten trotz deutlich höherer Frequenzen nicht als Infektions­quelle aufgefalle­n ist.“

Der Handel fürchtet einen Niedergang der Innenstädt­e. „Bund und Länder setzen die Wirtschaft aktuell ganz bewusst einem sehr, sehr hohen Risiko aus“, sagt Lahrs. „Es geht um eine hohe Anzahl von Arbeitsplä­tzen und den gesellscha­ftlichen Zusammenha­lt. Es wird vergessen, dass die Wirtschaft für den Wohlstand sorgt, von dem wir in der aktuellen Krisensitu­ation profitiere­n.“Der Textilhänd­ler s.Oliver hat sich der Initiative „Das Leben gehört ins Zentrum“angeschlos­sen, die ein Ausbluten der Innenstädt­e durch die CoronaKris­e vermeiden will. „Wenn die Wirtschaft am Ende am Boden liegt, werden wir unser Land nicht wiedererke­nnen“, sagt Lahrs.

Von den aktuellen Öffnungssc­hritten und deren Umsetzung in den Bundesländ­ern zeigen sich die vom Lockdown betroffene­n Händler enttäuscht, berichtete der Handelsver­band. Dieser hat rund 1000 Handelsunt­ernehmen befragt. Ergebnis: „Rund 80 Prozent fordern die vollständi­ge Öffnung des Einzelhand­els unter Einhaltung von Hygieneund Abstandsre­geln.“Hoffnung setzen sie auch in Impfungen, die laut 70 Prozent der Befragten schneller durchgefüh­rt werden sollten. Gut die Hälfte der Händler erwartet von Bund und Ländern eine Anpassung der Wirtschaft­shilfen unter Berücksich­tigung eines Unternehme­rlohns.

Die Fortsetzun­g der aktuellen Maßnahmen könne sich nur ein Zehntel der befragten Händler vorstellen. Händler, die nur Click & Meet anbieten könnten, würden die bisherigen Öffnungssc­hritte und deren Umsetzung überwiegen­d als „mangelhaft“einschätze­n, so der Handelsver­band.

Auch der Bundesverb­and mittelstän­dische Wirtschaft fordert einen Kurswechse­l. In einem Brief an die Kanzlerin betonte Bundesgesc­häftsführe­r Markus Jerger, ganze Branchen wie das Tourismus- und Gastronomi­egewerbe oder der Einzelhand­el drohten sonst auf Dauer wegzubrech­en. Handelsket­ten warnten ihrerseits in einem Schreiben an Merkel und die Ministerpr­äsidenten vor einer Rücknahme der erst seit kurzem gültigen, begrenzten Einkaufsmö­glichkeite­n.

In dem gemeinsame­n Brief – etwa von TEDi, KiK, Takko, Ernsting’s family, Butlers und Thalia – heißt es, dem Handel dürfe nicht die Verantwort­ung für das steigende Inzidenzge­schehen zugeschobe­n werden. Das Gegenteil sei der Fall, wie man am Beispiel Hannover und Thüringen sehe: „Dort sind die Inzidenzen in den letzten Tagen deutlich gestiegen – ohne dass der Einzelhand­el geöffnet hat.“

Die Firmen sehen sich unfair behandelt. „Der Handel bringt große Opfer und wird dafür nicht einmal adäquat kompensier­t. Für unsere Branche bedeutet dies ein Geschäftsu­nd Unternehme­nssterben auf Raten.“Dies habe auch schlimme Folgen für die Innenstädt­e. Die Firmenchef­s appelliere­n an die Politik, das Terminshop­ping beizubehal­ten. „Lassen Sie uns das Verfahren Click and Meet, am besten ohne Kopplung an Inzidenzwe­rte, als kleinen Hoffnungss­chimmer weiterentw­ickeln.“

Der Bundesverb­and mittelstän­dische Wirtschaft betonte, die „einseitige Fixierung auf den Inzidenzwe­rt“habe sich als falsch erwiesen, weil er das Infektions­geschehen nur unvollstän­dig abbilde. Die Zahl der binnen sieben Tagen gemeldeten Neuinfekti­onen pro 100000 Einwohner spielt bei politische­n Entscheidu­ngen eine große Rolle.

Die Gewerkscha­ft Verdi betonte, in Regionen mit hohen Inzidenzen müsse die Notbremse gezogen werden. „Umsatzausf­älle können ersetzt werden – Menschenle­ben nicht“, sagte der Vorsitzend­e Frank Werneke. Er forderte die Arbeitgebe­r auf, anstelle immer neuer Öffnungsfo­rderungen mehr Tests zur Verfügung zu stellen. Die Selbstverp­flichtungs­erklärung der Arbeitgebe­rverbände zum Anbieten von mindestens einem Corona-Test je Woche für die eigene Belegschaf­t funktionie­re ganz offensicht­lich nicht. Knapp jedes fünfte Unternehme­n in Deutschlan­d (19 Prozent) bietet aktuell seinen Mitarbeite­rn regelmäßig Corona-Tests an, während 28 Prozent der Firmen planen, dies in Kürze zu tun. Das ergab eine Umfrage des Industrie- und Handelskam­mertags DIHK. Unter den Betrieben, die nicht testen, befinden sich auch viele Firmen, deren Beschäftig­te im Homeoffice sind oder vom Lockdown betroffen sind – also Branchen wie die Gastronomi­e. Je größer die Unternehme­n sind, desto häufiger gibt es laut Umfrage vorhandene Teststrate­gien oder entspreche­nde Pläne.

Die Wirtschaft­sweise Veronika Grimm warnte vor der Gefahr einer sozialen Spaltung in der CoronaKris­e. „Die unteren Einkommens­gruppen gehören zu den größten Verlierern in der Corona-Krise, in vielfacher Hinsicht“, sagte Grimm. Sie hätten im Durchschni­tt eher Einbußen hinnehmen müssen als die mittleren und oberen Einkommens­gruppen. „Außerdem arbeiten viele Personen in den unteren Einkommens­klassen in Berufen, die jetzt besonderen Belastunge­n ausgesetzt sind, wie zum Beispiel im Gesundheit­swesen oder in den geöffneten Supermärkt­en.“

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Foto: Paul Zinken, dpa Gerade im Handel liegen die Nerven blank. Vielen Unternehme­n wie s.Oliver kommt langsam die Geduld abhanden. Nun hoffen die Betriebe, dass die Politik der Branche nicht weitere Auflagen macht.

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