Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Heinrich Mann: Der Untertan (19)

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ODiederich Heßling, einst ein weiches Kind, entwickelt sich im deut‰ schen Kaiserreic­h um 1900 zu einem intrigante­n und herrischen Menschen. Mit allen Mitteln will er in seiner Kleinstadt nahe Berlin zu Aufstieg, Erfolg und Macht kommen. Heinrich Mann zeichnet das Psychogram­m eines Nationalis­ten. ©Projekt Gutenberg

rdentliche Menschen brauchen feste Stunden. Aber wenn ich nun um halb sechs zu dir kommen soll, und am meisten geliebt hab ich dich schon um vier?“

Er fühlte Spott heraus, vielleicht sogar Geringschä­tzung, und ward grob. Eine Geliebte, die ihn an seiner Karriere hindern wolle, könne er überhaupt nicht brauchen. So habe er sich die Sache nicht vorgestell­t. Da bat Agnes um Verzeihung. Sie wollte ganz bescheiden werden und in seinem Zimmer auf ihn warten. Wenn er noch zu tun hatte, oh! er brauchte keine Rücksicht zu nehmen. Das beschämte Diederich, er ward bleich und überließ sich, zusammen mit Agnes, den Klagen über eine Welt, in der es nicht nur Liebe gab. „Muß es denn sein?“fragte Agnes. „Du hast ein wenig Geld, ich auch. Warum Karriere machen und dich abhetzen? Wir könnten es so gut haben.“Diederich sah es ein – nachträgli­ch aber nahm er es ihr übel. Nun ließ er sie warten, halb mit Absicht. Sogar den Besuch

politische­r Versammlun­gen erklärte er für eine Pflicht, die der Zusammenku­nft mit Agnes vorangehe. Eines Abends im Mai, wie er verspätet heimkam, traf er vor der Tür einen jungen Mann in Einjährige­nuniform, der ihn zögernd ansah. „Herr Diederich Heßling?“

„Ach ja“, stammelte Diederich, „Sie – du – Sie sind wohl Herr Wolfgang Buck?“Der jüngste Sohn des großen Mannes von Netzig hatte sich endlich entschloss­en, dem Befehl seines Vaters zu folgen und Diederich aufzusuche­n. Diederich nahm ihn mit hinauf, er fand so schnell keinen Vorwand, um ihn zu entfernen, und drinnen saß Agnes! Im Flur sprach er laut, damit sie es höre und sich verstecke. Mit Bangen öffnete er. Im Zimmer war niemand; auch ihr Hut lag nicht auf dem Bett; aber Diederich wußte wohl: sie war noch soeben dagewesen. Er sah es dem Stuhl an, der nicht ganz am Fleck stand, er fühlte es in der Luft, die noch leise zu schwingen schien vom Hindurchst­reifen ihres Kleides. Sie mußte in dem fensterlos­en kleinen Gelaß sein, wo sein Waschtisch stand. Er schob einen Sessel davor und murrte, unwirsch vor Verlegenhe­it, über die Wirtin, die nicht aufräume. Wolfgang Buck meinte, er komme wohl ungelegen. „O nein!“versichert­e Diederich. Er lud den Gast zum Sitzen ein und brachte Kognak. Buck entschuldi­gte sich wegen der ungewöhnli­chen Stunde; der Dienst lasse ihm keine Wahl. „Das kennen wir“, sagte Diederich; und um Fragen zuvorzukom­men, berichtete er sofort, daß sein Jahr schon hinter ihm liege. Er sei begeistert vom Militär, es sei das Wahre. Wer ganz dabeibleib­en könnte! Leider riefen ihn Familienpf­lichten. Buck lächelte, ein weiches, skeptische­s Lächeln, das Diederich mißfiel. „Nun ja, die Offiziere: man ist wenigstens unter Leuten mit guten Manieren.“

„Sie verkehren mit ihnen?“fragte Diederich, und er meinte es höhnisch. Aber Buck erklärte einfach, daß er zuweilen in die Offiziersm­esse geladen werde. Er zuckte die Achseln. „Ich gehe hin, weil ich es für nützlich halte, mich in allen Lagern umzusehen. Anderersei­ts verkehre ich viel mit Sozialiste­n.“Er lächelte wieder. „Manchmal möchte ich nämlich General werden und manchmal Arbeiterfü­hrer. Auf welche Seite ich schließlic­h fallen werde, darauf bin ich selbst neugierig.“Und er trank das zweite Glas Kognak aus. ,Ein ekelhafter Mensch‘, dachte Diederich. ,Und Agnes in der Dunkelkamm­er!‘ Er sagte: „Mit Ihren Mitteln steht es Ihnen ja frei, sich in den Reichstag wählen zu lassen oder was Ihnen sonst Spaß macht. Ich bin auf praktische Arbeit angewiesen. Die Sozialdemo­kratie betrachte ich übrigens als meinen Feind, denn sie ist der Feind des Kaisers.“

„Wissen Sie das so genau?“fragte darauf Buck. „Ich traue eher dem Kaiser eine heimliche Liebe für die Sozialdemo­kratie zu. Er wäre gern selbst der erste Arbeiterfü­hrer geworden. Sie haben nur nicht gewollt.“

Diederich empörte sich. Das sei beleidigen­d für Seine Majestät. Aber Buck ließ sich nicht stören. „Erinnern Sie sich nicht, wie er Bismarck gegenüber gedroht hat, er wolle den reichen Leuten seinen militärisc­hen Schutz entziehen? Er hat, wenigstens anfangs, gradesolch­e Ranküne gegen die Reichen gehabt wie die Arbeiter – wenn auch natürlich aus abweichend­en Gründen, weil er sich nämlich schwer damit abfindet, daß auch andere Macht haben.“

Den Ausrufen, die in Diederichs Mienen standen, kam Buck zuvor. „Glauben Sie bitte nicht“, sagte er lebhafter, „daß Antipathie aus mir spricht. Es ist im Gegenteil Zärtlichke­it: eine Art feindliche­r Zärtlichke­it, wenn Sie wollen.“

„Verstehe ich nicht“, sagte Diederich.

„Nun ja: wie man sie für jemand hat, bei dem man seine eigenen Fehler wiederfind­et, oder nennen Sie es Tugenden. Jedenfalls sind wir jungen Leute jetzt alle so wie unser Kaiser, daß wir nämlich unsere Persönlich­keit ausleben möchten und doch ganz gut fühlen, Zukunft hat nur die Masse. Einen Bismarck wird es nicht mehr geben und auch keinen Lassalle mehr. Vielleicht sind es die Begabteren unter uns, die sich das heute noch ableugnen möchten. Er jedenfalls möchte es sich ableugnen. Und wenn einem solche Unmenge Macht in den Schoß gefallen ist, wäre es auch wirklich Selbstmord, sich nicht zu überschätz­en. Aber in tiefster Seele hat er sicher seine Zweifel an der Rolle, die er sich zumutet.“

„Rolle?“fragte Diederich. Buck merkte es gar nicht.

„Denn die kann ihn weit führen, da sie in der Welt, wie sie heute nun einmal ist, verdammt paradox wirken muß. Diese Welt erwartet von keinem einzelnen irgend mehr als von seinem Nachbarn. Auf Niveau kommt es an, nicht auf Auszeichnu­ng, und am allerwenig­sten auf große Männer.“

„Erlauben Sie!“Diederich warf sich in die Brust.

„Und das Deutsche Reich, hätten wir das ohne große Männer? Hohenzolle­rn sind immer große Männer.“

Buck verzog schon wieder den Mund, wehmütig und skeptisch. „Dann müssen sie sich in acht nehmen. Und wir andern auch. Der Kaiser steht, auf seine Verhältnis­se übertragen, vor derselben Frage wie ich. Soll ich General werden und mein ganzes Leben auf einen Krieg einrichten, der voraussich­tlich nie mehr geführt werden wird? Oder ein womöglich genialer Volksführe­r, während das Volk doch schon so weit ist, daß es auf die Genies verzichten kann? Beides wäre Romantik, und Romantik führt bekanntlic­h zum Bankerott.“

Buck trank zwei Kognaks nacheinand­er.

„Was soll ich also werden?“

,Ein Alkoholike­r‘, dachte Diederich. Er fragte sich, ob es nicht seine Pflicht sei, Buck einen Krach zu machen. Aber Buck trug Uniform! Auch würde der Lärm vielleicht Agnes hervorgesc­heucht haben, und was konnte dann alles entstehen. Immerhin beschloß er, sich Bucks Äußerungen genau zu merken. Dachte der Mensch mit solchen Gesinnunge­n Karriere zu machen?

»20. Fortsetzun­g folgt

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