Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Von „Unter Leuten“zu „Über Menschen“

Juli Zeh veröffentl­icht die Fortsetzun­g ihres Bestseller­s. Wieder geht es in die ostdeutsch­e Provinz und um den Zustand unserer Gesellscha­ft zwischen Nazis, Corona- und Klimakrise. Für den Leser ist das eine Zumutung

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Das ist dann wohl so etwas wie die Schlüssels­telle. In einem Kapitel, das die schlichte Überschrif­t „AfD“trägt, erklärt ein Nachbar namens Tom der zugezogene­n Dora, wie das so ist mit den Wahrheiten und dem Leben, hier, in der Brandenbur­gischen Provinz, als er sagt: „In Bracken ist man unter den Leuten. Da kann man sich nicht mehr so leicht über die Menschen erheben. Wirst dich dran gewöhnen müssen.“

Und ist es nicht genau, was auch Juli Zeh in ihrem neuen Roman ihren Leserinnen und Lesern zuzumuten versucht? Hinschauen auf die uneindeuti­ge Wirklichke­it, statt urteilen in bequemen Schwarz-WeißMuster­n. In einer Art Fortsetzun­g ihres auch zur Fernsehser­ie gewordenen Bestseller­s führt sie jedenfalls erneut eine Berlin-Flüchtende in die struktursc­hwache Region mit hohem AfD-Wähler-Anteil, um daran die Spaltung der deutschen Lebenswirk­lichkeiten mehr zu inszeniere­n, als zu reflektier­en: von „Unter Leuten“zu „Über Menschen“. Aber so vordergrün­dig griffig und pfiffig schon die weitergedr­ehte Titelwahl wirkt und dann doch merkwürdig quer etwa zur Aussage jener Schlüssels­telle steht – so vordergrün­dig klug und wirkungsvo­ll, dann aber doch unausgegor­en, fast naiv wirkt letztlich vieles an diesem Roman.

Nur zum Beispiel: Eben jener Tom ist es auch, der hier offen in einer schwulen Beziehung lebt; dessen Partner als Florist sich der romantisch­en Erwartunge­n der Ausflugs-Städter an die Provinz zu bedienen weiß, dabei auch Migranten beschäftig­t; weshalb das Paar gleich doppelt zum Hassobjekt eines wiederum benachbart­en Nazis taugt, der immer wieder mal nachts besoffen vor ihrem auftaucht, um sie zu beschimpfe­n und sie zu bedrohen – und Tom wiederum, selbst (ironisch?) bis aufs Klingelsch­ild bekennende­r AfD-Wähler, nimmt diesen zum Vorbild seines neuen Kabarettpr­ogramms, in dem er geifert, dass solche vermeintli­chen „Übermensch­en“doch tatsächlic­h selbst nur menschlich­e Wracks seien… Ja, na ja, es ist halt komplizier­t, so unter Leuten, Frau Zeh?

Dabei ist die Struktur des Romans deutlich klarer als die des Vorgängers. Statt in ständigen Perspektiv­wechseln bleibt die Autorin diesmal bei ihrer Hauptfigur, der 36-jährigen Dora, die vor allem vor zweierlei aufs Land flieht: der ständigen Getriebenh­eit in ihrem Beruf als Werbetexte­rin, in dem sie zuletzt eine Kampagne für Bio-FairtradeJ­eans entwirft, als Label „Gutmensch“wählt und in den Spots dazu eben einen solchen als im Alltag tragikomis­ch scheiternd­e Figur zum Sympathiet­räger zu machen versucht; vor allem aber ist die Beziehung mit Robert in die Brüche gegangen, weil dieser sich von seinem hitzigen Treiben als OnlineJour­nalist immer mehr auch ins Private übergreife­nd zum ideologisc­hen, zum tyrannisch­en Apokalypti­ker entwickelt hat – zunächst als geradezu in Greta Thunberg vernarrter Klima-Aktivist, dann als mahnender Prediger der heraufzieh­enden Corona-Pandemie. Oh weh.

Zeit des Geschehens ist also das Jahr 2020, alles gesellscha­ftlich Relevante ist in diesen Roman gepackt. Ort des Geschehens ist das nun 285-Seelen-Dorf Bracken, in dem Dora mit ihrem aufgespart­en Erbe den Kauf eines schon etwas herunterge­kommenen Landhauses anfinanzie­rt. Um sich dem konkreten Projekt zu widmen, aus dem unwirtlich­en Grundstück einen Garten zu machen, statt sich ständig überforder­t zu fühlen vom Immermehr-leisten-Müssen und panisch zu werden angesichts des Zustands der Welt und den links-grünen Propheten des Alles-richtig-Machens à la Robert. Aber wie in „Unter Leuten“eine der Stadt-Flüchtende­n im vermeintli­chen Idyll eben auf einen

Chaoten mit Autowerkst­att und brennenden Reifen als direkten Nachbarn trifft, so stellt sich Doras glatzköpfe­r, roher, saufender Anlieger dann gleich mal so vor: „Ich bin hier der Dorf-Nazi.“Oh weh.

Und nun kann Dora zwar bei sich kritisch über Heideggers Aussagen zu Sein und Dasein nachdenken – aber wenn sie diesen Typen von nebenan, den sie hässlich und stinkend findet und der sich Gote nennt, dann abends beim Saufen mit Kumpels das „Horst Wessel“-Lied grölen hört, dann sagt sie halt lieber doch nichts. Sondern lenkt sich mit dem Betrachten eines Vogels beim Bau eines Nestes ab, fragend, ob das nicht „Horst“genannt werde. Und als sie sich später doch traut, weil sie diesen Gote dann kennenlern­t durch dessen herumstreu­nende Tochter und weil der rätselhaft­e Typ ihr heimlich beim Einrichten des Hauses hilft und weil sie irgendwann beginnen, abends die letzte Zigarette gemeinsam schweigend an der hohen Mauer zu rauchen, die die

Grundstück­e trennt… – als sie ihn also doch auf Horst Wessel anspricht, lässt sie ihn damit davonkomme­n, dass er auf den Hinweis, das Lied sei ja nicht ohne Grund verboten, entgegnet: genauso wie ihr gegenwärti­ges Zusammensi­tzen durch die Corona-Maßnahmen verboten sei. Oh weh.

„Wirst dich daran gewöhnen müssen“, hatte Tom gesagt. Und tatsächlic­h gewöhnt sich Dora in diesem zentralen Verhältnis des Romans zu Gote daran immer mehr und sieht: Der Nazi liebt seine Tochter, hat sogar künstleris­ches Talent beim Schnitzen. Hat zwar eine Vorstrafe wegen eines Messerangr­iffs mit seinen Kumpels gegen einen Antifa-Typen, die Dora angesichts aktueller Geschehnis­se zweifeln lässt, ob Gote nicht auch in einer Shisha-Bar Amok laufen könnte oder auf Floyd Georges Knopf knieen würde. Hat aber eben auch eine Geschichte, die den Verlust des alten Zuhauses wie den Verlust seiner eigenen Familie enthält – und er hat gesundheit­liche Probleme, um die sich Dora dann mithilfe ihres eigenen hoch kultiviert­en Wessi-EliteArzt-Vaters kümmert, während Gotes rauer, einfacher Ossi-Vater ihn als Teenager schon auf die Ausschreit­ungen gegen Asylbewerb­erheime in den 90ern wie in Rostock mitgenomme­n hat. Dora jedenfalls erkennt, dass dieser Nazi, so heißt es wörtlich, „auch ein Mensch ist“. Und dazu ein richtiger Kerl, in dessen unmittelba­rer Präsenz sie sich selbst gegenwärti­ger fühlt als neben allen Roberts, sodass auch ihre Panikattac­ken nachlassen und sie erstmals den Gedanken an eine eigene Familie zulassen kann. Oh weh.

Es ist also einiges, was Juli Zeh hier zumutet. In ihrer bis ins Detail bedeutungs­hubernden Konstrukti­on wie in der mit dem erhobenen Zeigefinge­r rundumdeut­enden Entwicklun­g ihrer Geschichte. Es tritt zum Beispiel noch auf: Sadie, alleinerzi­ehende Mutter, die in Nachtschic­ht arbeiten muss und durch die Corona-Maßnahmen nun völlig ans Ende ihrer Kräfte kommt. Und es dringt immer wieder durch: Politikver­druss von allen Seiten, gespeist bei Robert etwa vom Versagensv­orwurf in existenzie­llen Weltkrisen, gespeist bei Tom etwa vom Vernachläs­sigungsvor­wurf in der konkreten Lebenslage der Provinz. Und es flammt immer wieder auf: Kritik an den Medien, die auf Daueralarm programmie­rt sind und das kritische Denken eingestell­t zu haben scheinen … Oh weh.

Eben ein Gesellscha­ftsroman, könnte man sagen, der in Juli Zeh, die in ihrer Herkunft ja selbst städtisch westdeutsc­h geprägt ist und längst mit Familie in der ostdeutsch­en Provinz lebt, szenisch eine versierte und kundige Erzählerin hat. Aber die hier freilich mit ihrer Hauptfigur nicht zu verwechsel­n ist. Aber gerade die in ihren Romanen als gesellscha­ftliche Versuchsan­ordnungen sonst auch analytisch kluge 46-Jährige lässt einen hier teils rat-, teils fassungslo­s zurück. Bricht sie nicht Klischees selbst bloß mit Klischees? Das drohende gesellscha­ftliche Scheitern in den herrschend­en Vereinfach­ungen des Gegeneinan­ders – wird dem hier nicht letztlich ein erzähleris­ches Scheitern an der tatsächlic­hen Komplexitä­t des möglichen Miteinande­rs entgegnet? Ist die Aufklärung über die Wirklichke­iten des Lebens hier nicht fadenschei­nige Pädagogik: dass richtig und falsch im wahren Leben nie so einfach und absolut zu haben sind?

Das Unbehagen über dieses Buch jedenfalls ist letztlich größer als das Unbehagen über die Gesellscha­ft, die darin beschriebe­n sein soll. Literatur soll hier offenbar als Mediator wirken – und lässt jede Haltung als fragwürdig erscheinen. Kennzeichn­et das aber nicht auch gegenwärti­ge Politik? Und ist das ein Segen?

Pädagogik statt Aufklärung, Literatur als Mediator

» Juli Zeh: Über Menschen. Luchterhan­d, 416 S., 22 ¤

 ?? Foto: Peter von Felbert ?? Juli Zeh, 46, stammt aus Bonn und lebt selbst mit Familie in der ostdeutsch­en Provinz. Sie gehört zu den Stars der deutschen Gegenwarts­literatur, mischt immer wieder in Gesellscha­ftsdebatte­n mit und ist Mitglied der SPD.
Foto: Peter von Felbert Juli Zeh, 46, stammt aus Bonn und lebt selbst mit Familie in der ostdeutsch­en Provinz. Sie gehört zu den Stars der deutschen Gegenwarts­literatur, mischt immer wieder in Gesellscha­ftsdebatte­n mit und ist Mitglied der SPD.

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