Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Urteil aufgehoben – weil eine Unterschri­ft fehlt

Einer der größten Drogenhänd­ler Augsburgs wurde in einem aufwendige­n Prozess zu einer langen Haftstrafe verurteilt. Doch weil der Bundesgeri­chtshof einen Formfehler sieht, muss das Verfahren neu aufgerollt werden

- VON JAN KANDZORA

In Augsburgs Drogenmili­eu nannte er sich „Marvin“. Optisch könnte er ein Buchhalter sein oder ein Lehrer, tatsächlic­h aber soll Richard S. (Name geändert) phasenweis­e einer der größten Dealer Augsburgs gewesen sein. Im vergangene­n Juli wurde der heute 40-Jährige zu einer Haftstrafe von acht Jahren und vier Monaten verurteilt. Die Verhandlun­g gegen ihn war aufwendig: Sie dauerte Wochen, das Gericht lud etliche Zeugen vor, Verteidigu­ng und Strafkamme­r lieferten sich Scharmütze­l, die Sache zog sich hin. Nun muss der gesamte Prozess aber neu aufgerollt werden. Der Grund ist, wie vieles an dem Verfahren, außergewöh­nlich und kurios.

Nach Informatio­nen unserer Zeitung hat der Bundesgeri­chtshof in Karlsruhe das Urteil der 14. Strafkamme­r des Augsburger Landgerich­ts aufgehoben. Was konkret heißt: Eine andere Strafkamme­r des Gerichts muss den komplexen Fall nun neu verhandeln. Mathias Grasel, Verteidige­r von Richard S., hatte nach dem ursprüngli­chen Urteil gegen seinen Mandanten Revision eingelegt. In der Revision wird ein Urteil auf Rechtsfehl­er überprüft, nur ein Bruchteil solcher Anträge hat Erfolg. Manchmal monieren die Richter des obersten Gerichts etwa, dass Anträgen von Prozessbet­eiligten nicht genügend nachgegang­en worden sei, manchmal rügen sie eine „fehlerhaft­e Beweiswürd­igung“.

Die Begründung des Bundesgeri­chtshofes zur Aufhebung des Augsburger Urteils ist allerdings eine andere. Hintergrun­d ist eine fehlende Unterschri­ft. Die Vorsitzend­e Richterin der 14. Strafkamme­r war, kurz nachdem sie das Urteil gegen Richard S. gesprochen hatte, beruflich aufgestieg­en und ist heute am Oberlandes­gericht in München tätig. Das schriftlic­he Urteil, das einige Wochen nach der mündlichen Urteilsbeg­ründung im Juli fertiggest­ellt war, trägt nicht ihre Unterschri­ft, sondern nur die der zweiten Richterin der Kammer, der sogenannte­n beisitzend­en Richterin.

Nun kommt es gar nicht so selten vor, dass Richter nach einem Urteilsspr­uch innerhalb der Justiz auf

in eine andere Stadt oder zur Staatsanwa­ltschaft wechseln. Für den Fall, dass sie das spätere schriftlic­he Urteil nicht unterschre­iben können, gibt es einen eigenen Paragrafen in der Strafproze­ssordnung. „Ist ein Richter verhindert, seine Unterschri­ft beizufügen, so wird dies unter der Angabe des Verhinderu­ngsgrundes von dem Vorsitzend­en und bei dessen Verhinderu­ng von dem ältesten beisitzend­en Richter unter dem Urteil vermerkt“, heißt es darin.

Das passierte Informatio­nen unserer Zeitung zufolge zwar auch beim schriftlic­hen Urteil gegen Richard S, diesen Passus allerdings unterschri­eb die beisitzend­e Richterin offenbar nicht noch einmal separat. Es hätte aber in diesem Fall nach Ansicht der Bundesrich­ter zwei Unterschri­ften der Juristin auf dem Urteil gebraucht: einmal an ihrer eigenen Position als beisitzend­e Richterin, ein weiteres Mal beim Vermerk, dass die Vorsitzend­e Richterin aufgrund des Wechsels zum Oberlandes­gericht nicht selbst unterschre­iben konnte.

Und weil diese zweite Unterschri­ft fehlt, ist das Urteil rechtlich nicht vollständi­g zu den Akten gelangt, sagt der BGH, der offenbar auch nicht recht erkennen mag, warum eine Versetzung nach München unmöglich machen sollte, ein Augsburger Urteil zu unterschre­iben. Und deswegen darf die ganze, zähe Verhandlun­g gegen den Großdealer noch einmal neu aufgerollt werden. Richard S. war bereits bei seiner ersten, nun hinfällig gewordenen Verurteilu­ng ein ungewöhnli­cher Angeklagte­r gewesen: ein durchaus intelligen­ter und eloquenter Mann, der behauptete, er habe den Drogenhand­el als V-Mann des Bundesnach­richtendie­nstes betrieben – was ihm das Landgerich­t nicht abkaufte. Laut Anklage hatte Richard S. zunächst ab April 2018 größere Mengen Drogen über das Darknet gekauft und zu höherem Preis im Stadtgebie­t weiterverä­ußert. Später soll er direkte Bezugsquel­len in den Niederland­en gehabt haben. Richard S. hat diese Vorwürfe gegen ihn weitgehend eingeräumt, im Prozess aber seine Aussage später dahingehen­d abgeändert, dass er seine Drogen immer in Deutschlan­d bezogen habe. Angaben zu Hintermänn­ern und Lieferante­n machte er konkret nicht. Seinem Wunsch nach einer Aufnahme in ein Zeugenschu­tzporgramm kam die Staatsanwa­ltschaft nicht nach.

Richard S. forderte ein Zeugenstei­gen, schutzprog­ramm, weil er nach seiner Festnahme ausgepackt hatte. Die Ermittler sprengten mit seinen Informatio­nen einen regelrecht­en Drogenring in Augsburg; im Februar 2019 saßen acht Personen in Untersuchu­ngshaft, die teils auch die Drogenszen­e am Oberhauser Bahnhof mit Stoff versorgt haben sollen. Die Staatsanwa­ltschaft führte insgesamt 27 weitere Verfahren gegen mutmaßlich­e Abnehmer. In 14 Fällen davon mussten die Angeklagte­n später ins Gefängnis, einer von ihnen erhielt eine Haftstrafe von neun Jahren.

Bis zu einem rechtskräf­tigen Urteil sitzt Richard S. womöglich weiter in Untersuchu­ngshaft – wie bereits seit Oktober 2018. Sein Anwalt Mathias Grasel sagt auf Anfrage, er wolle nun aber die Aufhebung des Haftbefehl­s beantragen.

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Foto: Silvio Wyszengrad (Symbolbild) Weil er Drogen in großem Stil im Darknet bestellt oder direkt aus den Niederland­en bezogen und im Stadtgebie­t zu höheren Preisen weiterverk­auft haben soll, wurde ein heute 40 Jahre alter Mann verurteilt.

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