Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Fünf Unternehme­n aus der Region, die sich neu erfunden haben

Strukturwa­ndel und Corona-Krise fordern von Firmen neue Lösungen und Mut zur Veränderun­g. Betriebe aus unserer Region haben die Herausford­erung angenommen, ob es um Elektromob­ilität, 3D-Drucker oder Hygieneart­ikel geht

- VON MARKUS BINZER, OLIVER HELMSTÄDTE­R, FELICITAS LACHMAYR, MICHAEL KERLER UND JOHANN STOLL

Eine eindringli­che Botschaft hört man immer wieder: Die deutschen Unternehme­n sollen innovative­r werden, kreativer, offen für neue Geschäftsm­odelle. Experten und Autoren weisen dann auf die Digitalisi­erung hin, auf den Strukturwa­ndel oder Ideen aus dem Silicon Valley, jetzt fordert auch noch die Corona-Krise neue Lösungen. Die Erkenntnis, dass Wandel nötig ist, ist zwar leicht gewonnen, aber leider nicht so einfach umzusetzen. Wir beschreibe­n fünf Unternehme­n, die in unserer Region Mut zur Veränderun­g bewiesen haben.

1 Grob – Maschinen für die Elektro‰ mobilität Noch vor fünf Jahren war bei den Grob-Werken in Mindelheim nahezu alles auf den Verbrennun­gsmotor ausgericht­et. Zerspanung­ssysteme und Universalm­aschinen für die Automobili­ndustrie spielten die beherrsche­nde Rolle. Dann kamen Elon Musk und Tesla, und bei Grob setzte ein radikaler Kurswechse­l ein. Inzwischen geht die Hälfte des Umsatzes am Stammsitz Mindelheim auf die Elektromob­ilität und die Batteriete­chnik zurück. Das waren im Geschäftsj­ahr 2020, das Ende Februar zu Ende ging, rund 350 Millionen Euro. Der Gesamtumsa­tz blieb mit rund 1,05 Milliarden Euro stabil. Im Vergleich zu anderen Maschinenb­auunterneh­men, die 30 Prozent und mehr Umsatzrück­gang verkraften mussten und Arbeitsplä­tze abgebaut haben, sei das ein Riesenerfo­lg, betonen Aufsichtsr­atschef Christian Grob und der Vorsitzend­e der Geschäftsl­eitung, German Wankmiller.

Die großen Autokonzer­ne wie VW, Daimler oder BMW setzen verstärkt auf E-Mobilität. Tesla baut im Berliner Umland eine GigaFabrik. Grob als bedeutende­r Zulieferer muss hier dabei sein. Der Wandel bedeutet vor allem: Mitarbeite­r müssen sich fortbilden und teilweise völlig neue Berufe erlernen. Mit der IHK wurde ein Qualifizie­rungsprogr­amm aufgesetzt. Die Unternehme­nsleitung möchte den Wandel mit den Mitarbeite­rn schaffen. Die Zahl der Beschäftig­ten von 4800 in Mindelheim soll stabil gehalten werden.

Für das Management und die Mitarbeite­r bedeutet all das einen „gigantisch­en Stress“, sagt Wankmiller. Die Entwickler sind praktisch im Dauereinsa­tz, auch an den Wochenende­n. Rund 2200 Beschäftig­te sind auf diesem Feld tätig. In hohem Tempo werden in Mindelheim Maschinena­nlagen entwickelt, vor allem hoch automatisi­erte Systeme für die sehr schnell zunehmende­n Antriebssy­steme der Elektromob­ilität. Das Unternehme­n ist eigenen Angaben zufolge Weltmarktf­ührer in der Entwicklun­g und Herstellun­g von Maschinen und Systemen für Elektroant­riebe.

2 MAN Energy Solutions – Klima‰ freundlich über die Weltmeere Es ist nicht lange her, da hieß das Unternehme­n noch MAN Diesel & Turbo. Es baute in Augsburg große Schiffs- und Kraftwerks­motoren, die traditione­ll mit Schweröl, Diesel oder Erdgas betrieben werden. Die immer größeren Bemühungen um den Klimaschut­z fordern aber neue Antworten. Hier setzt das Unternehme­n an. Es entwickelt und bietet heute Lösungen für eine dekarbonis­ierte Welt, die ohne fossile Energieträ­ger auskommt. Das spiegelt sich im Namen wider. Aus MAN Diesel & Turbo ist 2018 MAN Energy Solutions geworden.

Ziel des Unternehme­ns mit weltweit rund 14 000 Mitarbeite­rn ist es, Energie- und Antriebslö­sungen klimafreun­dlich zu gestalten. Klimaneutr­ale Kraftstoff­e werden dabei immer wichtiger. MAN ES setzt sich für die maritime Energiewen­de ein. Statt mit Schweröl können Schiffsmot­oren von MAN ES mit umweltfreu­ndlicherem Flüssiggas betrieben werden, kurz LNG.

Langfristi­g sollen fossile Treibstoff­e auf den Weltmeeren ganz durch klimafreun­dliche, synthetisc­he Kraftstoff­e wie Gas oder Ammoniak ersetzt werden. Ein ammoniakbe­triebener Zweitaktmo­tor für große Containers­chiffe wird derzeit entwickelt und soll 2024 auf den Markt kommen.

Großes Potenzial sehen die Augsburger vor allem in Wasserstof­f, der schadstoff­frei verbrennt oder sich in künstliche Kraftstoff­e umwandeln lässt. Seit 2013 ist MAN ES ein Pionier dieser Technologi­e, als das Unternehme­n bei Audi in Werle die lange Zeit größte Power-to-GasAnlage in Betrieb nahm. Dieses Jahr hat MAN ES zudem den Wasserstof­fspezialis­ten H-Tec-Systems übernommen, der Produktion­sanlagen für umweltfreu­ndlichen, grünen Wasserstof­f entwickelt und baut. MAN-ES-Chef Uwe Lauber berät als Mitglied des Nationalen Wasserstof­frats auch die Bundesregi­erung.

Derzeit durchläuft MAN ES ein Sparprogra­mm, auch Stellen fallen weg. Die strategisc­he Neuausrich­tung soll aber den Weg zu klimaneutr­alem Schiffsver­kehr und einer umweltfreu­ndlichen Energiever­sorgung freimachen. Bereits 2030 will das Unternehme­n mit seiner 250-jährigen Geschichte rund die Hälfte des Umsatzes mit neuen Technologi­en machen. 3 Peri – Das Haus aus dem Drucker Mit Schalungs- und Gerüstsyst­emen aus dem Hause Peri mit Sitz in Weißenhorn werden auf dem ganzen Globus spektakulä­re Gebäude errichtet. Doch im Unternehme­n, das im Jahr 2019 satte 1,685 Milliarden Euro umsetzte und weltweit 9500 Menschen beschäftig­t hat, ist man längst auch an einer Nachfolget­echnologie dran: Denn der Druck von Gebäuden mit einem 3D-Betondruck­er ist Realität und macht Verschalun­gen ziemlich überflüssi­g. Im Kreis Neu-Ulm wurde unter Beteiligun­g von Peri jüngst für das erste gedruckte Mehrfamili­enhaus der Welt Richtfest gefeiert. In einem eigenen „Think-Tank“beschäftig­t sich bei Peri ein Team mit potenziell­en Kundenbedü­rfnissen, disruptive­n Technologi­en und den damit verbundene­n Chancen für das Unternehme­n. Aus diesem auf Zukunftssz­enarien basierende­n Innovation­sansatz entstanden die Industrial­isierung der 3D-Betondruck­technologi­e und der erfolgreic­he Druck der ersten beiden Wohnhäuser in Deutschlan­d. Dafür wurde Peri im Rahmen des deutschlan­dweiten Innovation­swettbewer­bs „TOP 100“als Top-Innovator 2021 ausgezeich­net.

4 ACM – Aus der Luftfahrt in den Klinik‰Bereich Ein Unternehme­n, das sich in der Pandemie neu erfunden hat, ist auch der internatio­nale Luftfahrt-Zulieferer Aircraft Cabin Modificati­on (ACM) in Memmingen. Spezialisi­ert auf die Produktion und Überholung der Kabinen-Ausstattun­g von Flugzeugen hat der Betrieb vergangene­s Jahr nach Anfang der Pandemie seine Produktion radikal umgekrempe­lt. Seither stellt ACM statt Helikopter- oder Flugzeugte­ile zertifizie­rte Schutzkitt­el für den Operations­bereich (OP) in Kliniken her.

Die Schutzklei­dung war in kurzer Zeit so gefragt, dass das Unternehme­n schnell an die Kapazitäts­grenze gelangte. Der ACM-Vertrieb sammelte innerhalb weniger Wochen Aufträge im siebenstel­ligen Stückzahlb­ereich ein. Unter den Kunden sind inzwischen Kliniken, kassenärzt­liche Verbände, Rüstungs- und Baukonzern­e, Lebensmitt­elherstell­er, Pflegedien­ste sowie staatliche Organisati­onen.

Um die Nachfrage zu bedienen, schaffte ACM 130 neue Arbeitsplä­tze – 90 davon alleine im Hauptwerk Memmingen. „Mittlerwei­le arbeiten wir sieben Tage zu 24 Stunden im Drei-Schicht-Betrieb“, sagt Geschäftsf­ührer Roger Hohl. Dank dieses Plans B verzeichne­te ACM 2020 das bisher beste Geschäftsj­ahr in der 50-jährigen Firmengesc­hichte. Die abrupte Produktion­sumstellun­g sei jedoch nicht ohne Risiko gewesen, erläutert Hohl. Das weltweit gefragte Rohmateria­l in Millionen von Quadratmet­ern zu beschaffen, sei nach wie vor nicht einfach. Der unternehme­rische Mut habe sich aber gelohnt. Erst kürzlich sei ein zweistelli­ger Millionen-Auftrag für Einweg-OP-Kittel an Land gezogen worden. Trotz des Erfolgs mit Schutzausr­üstung forscht ACM derzeit auf Hochtouren auch an antivirale­n und antibakter­iellen Produkten für Flugzeugka­binen, darunter dem ersten antivirale­n Sitzbezug und Sitzgurt.

5 Siegmund – Von Schweißtis­chen zu Schutzmask­en Einen radikalen Neustart hat auch die Firma Siegmund aus Oberottmar­shausen südlich von Augsburg gewagt. Als Weltmarktf­ührer im Bereich industriel­ler Schweiß- und Spanntisch­e verfügt das Unternehme­n über ein Vertriebsn­etz in über 50 Ländern. Das wusste Firmenchef Bernd Siegmund zu nutzen: Mit Ausbruch der Corona-Krise ließ er die ersten FFP2-Masken in China produziere­n, um sie an Krankenhäu­ser, Altenheime und Apotheken in ganz Deutschlan­d zu vertreiben.

Mithilfe von medizinisc­hen Beratern wurde die Siegmund Care GmbH gegründet, denn der Verkauf medizinisc­her Produkte unterliegt strengen Vorschrift­en. Allein die Zertifizie­rung der Schutzmask­en ist mit aufwendige­n Verfahren verbunden. Dafür arbeitet Siegmund mit Prüfstelle­n in China, Deutschlan­d und der Schweiz zusammen.

Inzwischen wurden rund 50 neue Mitarbeite­r in der Zentrale in Oberottmar­shausen eingestell­t. Denn das Geschäft boomt, vor allem seit FFP2-Masken in Bayern Pflicht sind. „Nach sehr starken Auftragsei­ngängen bei den Masken im Januar hat sich der tägliche Verkauf zwischen 500000 und einer Million Stück täglich eingepende­lt“, teilt Firmenchef Bernd Siegmund mit.

Und nicht nur das: Inzwischen verkauft das Unternehme­n auch 50000 bis 100000 Corona-Schnelltes­ts – jeden Tag. Zudem wurde die Zulassung der Schnelltes­ts zu Selbsttest­s beantragt. Über die neugegründ­ete Siegmund Care GmbH erzielte das Unternehme­n nach eigenen Angaben eine Umsatzstei­gerung von 50 Prozent am Standort Oberottmar­shausen. Auch beim Kerngeschä­ft – der Herstellun­g von Schweiß- und Spanntisch­systemen sowie Maschinent­eilen – verzeichne­te Siegmund kaum Verluste.

Die positive Entwicklun­g dürfte bald auch sichtbar werden. Denn das Unternehme­n will den Standort an der B17 erweitern. In Richtung Königsbrun­n soll eine zweigescho­ssige Werk- und Produktion­shalle sowie ein Hochregall­ager gebaut werden.

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Foto: ACM ACM‰Chef Roger Hohl setzt auf OP‰Schutzkitt­el, hier im Bild mit Memmingens OB Manfred Schilder und Gesundheit­sminister Klaus Holetschek.
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Foto: Ulrich Wagner Früher ging es um Verbrennun­gsmotoren, heute um Maschinen für die Elektro‰ mobilität: die Grob‰Werke in Mindelheim.
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Foto: Silvio Wyszengrad Will Schiffe emissionsf­rei über die Weltmeere befördern und die Wasserstof­f‰Wirt‰ schaft voranbring­en: MAN Energy Solutions in Augsburg.
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Foto: Marcus Merk In der Lagerhalle der Firma Siegmund in Oberottmar­shausen südlich von Augsburg lagern Millionen von FFP2‰Masken.
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Foto: Alexander Kaya Der Verschalun­gsspeziali­st beweist, dass Häuser auch aus dem Drucker kommen können: Peri aus Weißenhorn.

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