Augsburger Allgemeine (Land Nord)

„Bei Bausünden hilft grundsätzl­ich Humor“

Zwiebeltür­mchen, Stuck und Plastikhec­ken – in deutschen Eigenheims­iedlungen treiben Fantasie und Sehnsucht seltsame Blüten. Die Architektu­rhistorike­rin Turit Fröbe hat genau hingesehen

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Frau Fröbe, Sie unterschei­den zwischen guten und schlechten Bausünden. Sind die Übergänge nicht fließend? Turit Fröbe: Überhaupt nicht! Die guten Bausünden finden die Leute hässlich, da kommt sofort eine Reaktion auf: Wie konnte das passieren?! Das sind aber oft Dinge, die eine gewisse Originalit­ät haben, die von Fantasie zeugen. Die schlechten Bausünden sehen sie nicht. Die sind so banal, dass das Auge abrutscht.

Haben Sie Beispiele?

Fröbe: Das sind die einfallslo­sen Investoren­architektu­ren an unseren Einfallstr­aßen. Auch diese Fertighäus­er mit kleinen oder gar keinen Fenstern gehören dazu. Sie sind austauschb­ar, das ist das Entscheide­nde. Gute Bausünden sind dagegen absolut originell, es gibt sie nur einmal. Besonders in der Innenstadt verraten sie oft viel über die Stadt selbst.

Nun werfen Sie einen Blick auf „Eigenwilli­gen Eigenheime“und plädieren für Verständni­s. Muss man das auch für die Toskana-Villen aufbringen, die bald in jedem Dorf anzutreffe­n sind? Fröbe: Grundsätzl­ich hilft Humor. Man sollte überhaupt Bausünden mit mehr Gelassenhe­it begegnen. Sie sind ja im Privaten meistens liebevoll gemacht, also darf man für Bauherren durchaus Verständni­s haben. In unserer Gesellscha­ft ist die baukulture­lle Bildung nicht sonderlich ausgeprägt.

Worauf spielen Sie an?

Fröbe: Es geht weniger um das historisch­e Wissen als den Umgang mit unserer aktuellen Architektu­r. Vielen, die zur Toskana-Villa oder ähnlichem greifen, ist in der Regel gar nicht klar, was sie sich da hinstellen. Mein Verständni­s ist aber sehr begrenzt, wenn es um die Bauindustr­ie geht, die solche Lösungen von der Stange bietet. Die Häuslebaue­r verlassen sich doch darauf, dass das Angebotene in Ordnung ist.

Was erzählen diese „exotischen“Eigenheime?

Fröbe: Sie zeigen oft, wo sie lieber stünden. Bei den Toskana-Villen ist das sehr eindeutig, dann gibt es diese blockhütte­nhaften Schwedenhä­user oder Mississipp­i-Häuser wie aus „Vom Winde verweht“. In piefigen Wohngebiet­en kann man damit auch seine Weltläufig­keit ausdrücken. Außerdem zeigen die Häuser häufig, was sie gerne wären: Fachwerkha­us, Ritterburg oder Villa. All diese Bauten senden Nachrichte­n in den Außenraum, deshalb darf man sie ruhig als Street-Art begreifen.

Viele Bausünden sind auch den finanziell­en Möglichkei­ten geschuldet.

Fröbe: Natürlich ist es immer einfacher, wenn Geld keine Rolle spielt. Aber diese Bausünden sind in allen Segmenten zu finden. Wenn die Mittel für die großen Lösungen der Bauindustr­ie fehlen, geht man in den Baumarkt. Abgesehen davon kann man wirklich jedes qualitativ hochwertig­e Gebäude in eine Bausünde verwandeln. Anbau, Umbau, Überformun­g, Dekoration – die Baumärkte bieten unendlich viele komische Dinge. Komisch ist gut. Man staunt ja wirklich, was man alles auffrisier­en kann.

Fröbe: Jedes Vordach, jeden Briefkaste­n, jede Treppenstu­fe, jeden

Türgriff. Allein dieser Gestaltung­swille ist fasziniere­nd. Ich beobachte das seit 20 Jahren und dachte immer, dass das Thema für mich irgendwann durch ist. Aber nein, die Leute lassen sich ständig etwas Neues einfallen. Es bleibt weiterhin spannend.

Was ist denn gerade angesagt?

Fröbe: Früher hat man eher die Fassade umgestalte­t, inzwischen verlagert sich das immer häufiger auf den Garten. Will man ihn nicht zeigen, kann das genauso der Zaun, die Mauer oder die vorgesetzt­e Garage übernehmen. Der Trend geht auch weg vom Grün.

Ist das Umweltbewu­sstsein denn nicht stärker geworden?

Fröbe: Sollte man meinen. Stattdesse­n

nehmen die reinen Schottergä­rten zu. Oder Gabionen, diese mit Steinen gefüllten Drahtkörbe. Relativ häufig sieht man allerdings chilenisch­e Araukarien oder zugeschnit­tene Buchsbäume. Da Letztere sehr anspruchsv­oll in der Pflege sind, gibt es sie längst aus Plastik. Ich komme immer wieder in sterile versteiner­te Siedlungen, in denen kein Insekt überleben kann, weil kein echter grüner Halm mehr steht.

Gibt es Ecken in Deutschlan­d, die besonders bausündeng­efährdet sind? Fröbe: Spitzenrei­ter ist das Saarland, dort ist das Bastel- und Heimwerker­tum bestens verankert. Genau das hatte ich in Baden-Württember­g erwartet. Das Gegenteil ist der Fall. Es gibt vereinzelt­e Bausünden, aber die bleiben allein. Normalerwe­ise schaukeln sich die Nachbarn gegenseiti­g hoch, hier tanzt man dagegen nicht gerne aus der Reihe.

Wie sieht es in Bayern aus?

Fröbe: Bislang bin ich bei meinen Streifzüge­n in Bayern nie enttäuscht worden und habe schon jede Menge überrasche­nde und originelle Bausünden gefunden. Das eine oder andere Motiv hat es in das neue Buch geschafft.

Das Problem liegt doch auch in der Einheitsso­ße, die über weite Bereiche der Baugestalt­ung gekippt wird. Fehlt der Mut?

Fröbe: Beim Eigenheim eher nicht, da schlägt die Fantasie durch. Aber allgemein fehlt unserer Baukultur der Mut. Ich vermisse ein klares Bekenntnis zur modernen Architektu­r, damit ist eine Fortentwic­klung gemeint. Die allgegenwä­rtigen Rekonstruk­tionstende­nzen und der Pseudo-Historismu­s sind hochproble­matisch. Das ist der neueste, und ich meine, fürchterli­chste Trend. Denn diese Architektu­r ist nicht mehr aufs Hinsehen ausgericht­et.

Nun kommt ja auch die echte Gründerzei­tarchitekt­ur wieder gut an.

Fröbe: Klar, inzwischen sind die Wohnungen flächendec­kend saniert. Die flexiblen Grundrisse passen hervorrage­nd zu unseren Wohnwünsch­en. Aber ursprüngli­ch wurden sie jahrzehnte­lang als Bausünden, als reine Fassadenar­chitektur wahrgenomm­en. Die gesamte Architektu­r der Moderne ist eine einzige Reaktion auf diesen Historismu­s. So gesehen ist es der Treppenwit­z der

Geschichte, dass als Reaktion auf die Moderne eine Pseudo-Gründerzei­tInvestore­narchitekt­ur aufploppt.

Kennen Sie Architekte­n solcher Bausünden?

Fröbe: Nein, an der Universitä­t wissen die Studierend­en spätestens nach der Aufnahmepr­üfung, dass zum Beispiel das Thema Satteldach tabu ist.

Haben Sie eine Lieblingsb­ausünde? Fröbe: Ja! Das ist in Bielefeld ein Stromkaste­n, der von einem Stelenfeld umgeben ist. Was für eine Inszenieru­ng. Das habe ich vor 20 Jahren bei einem Spaziergan­g entdeckt. Mein Berufslebe­n wäre anders verlaufen, wenn ich die andere Straßensei­te genommen hätte. Ich war eine vollkommen bornierte Architektu­rhistorike­rin und habe mir nur ausgewiese­n Gutes angesehen. Bausünden waren eine Zumutung für mich. Dann stellte sich heraus, dass das eine völlig verkannte Gattung ist.

Siedlungen, in denen kein Insekt überleben kann

Eigentlich müssten Sie in einer Bausünde wohnen.

Fröbe: Gründerzei­t. Also eine Bausünde der alten Schule. Aber das Wohnen ist kein Problem, schlimm ist es, ständig auf eine Bausünde zu schauen. Interview: Christa Sigg

» Turit Fröbe: Eigenwilli­ge Eigenhei‰ me. Die Bausünden der anderen, DuMont, 160 Seiten, 20 Euro

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Fotos: Turit Fröbe, DuMont; Philipp Birau Obernberg (Österreich): Bayerische­s Barock trifft auf Tausendund­eine Nacht.
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Die Architektu­rhistorike­rin Turit Fröbe entwickelt mit ihrem Büro „Die Stadt‰ denkerei“Konzepte zur Baukulturv­ermittlung.

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